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ALS: Patienten profitieren von hochkalorischer Spezialnahrung und Hyperlipidämie

Autor: Manuela Arand

Gewichtsstabilisierende Maßnahmen wirken bei ALS protektiv. Gewichtsstabilisierende Maßnahmen wirken bei ALS protektiv. © iStock.com/GreenApple78
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Nach langer Durststrecke tun sich mehr und mehr Optionen auf, das Leben von Patienten mit amyotropher Lateralsklerose zu verlängern. Die Spanne reicht von hyperkalorischer Ernährung bis zu krankheitsmodifizierenden Wirkstoffen.

Der Energiestoffwechsel von ALS-Patienten ist in frühen Krankheitsphasen, ja sogar schon präklinisch verändert, erklärte Professor Dr. Jan Kassubek vom Universitätsklinikum Ulm. Als prognostisch ungünstig gilt, wenn die Patienten stark abnehmen: 5 % weniger Gewicht verkürzt die Lebenserwartung um 30 %. Umgekehrt wirken gewichtsstabilisierende Maßnahmen protektiv. Wahrscheinlich spielt dabei der Hypothalamus eine zentrale Rolle, er wird daher von den Ulmer Kollegen intensiv beforscht. Außerdem hat sich gezeigt, dass für ALS-Patienten gut ist, was gemeinhin bekämpft wird: Hypercholesterinämie, hohes LDL und hohe Triglyzeride sind mit einem verlängerten Überleben verbunden.

Im vergangenen Jahr hat das deutsche Netzwerk für Motoneuronerkrankungen die placebokontrollierte LIPCAL-ALS-Studie abgeschlossen, bei der 100 ALS-Patienten außer der normalen Kost eine hochkalorische Trinknahrung (405 kcal pro Tag) mit sehr hohem Fettgehalt erhielten. 100 weitere Patienten stellten die Kontrollgruppe dar. Die Studie lief über 18 Monate, primärer Endpunkt war das Überleben. Wie Privatdozent Dr. Johannes Dorst vom Universitätsklinikum Ulm berichtete, sank die Überlebenskurve der Verumgruppe nicht ganz so steil wie unter Placebo, der Unterschied erreichte aber keine statistische Signifikanz.

Das änderte sich, als die Forscher ausschließlich Patienten betrachteten, die rasch an Gewicht verloren und bei denen die Krankheit gemessen an der ALS-Functional Rating Scale (ALS-FRS, s. Kasten) schnell fortschritt. Bei ihnen wurde der Überlebensunterschied wesentlich größer und signifikant (p = 0,02). „Diese Subgruppe hat von der Intervention offenbar erheblich profitiert“, meinte Dr. Dorst. Auch der BMI stabilisierte sich durch die Trinknahrung besser als in der Gesamtkohorte.

Therapieeffekte messen – aber richtig

Gerade bei der ALS muss man hinterfragen, welche Studienendpunkte sinnvoll sind, betonte Prof. Meyer. Es gilt, die ganze Kaskade der Erkrankung zu berücksichtigen, die von der neuronalen Schädigung über alltagsrelevante Funktionsstörungen durch Muskelparesen schließlich die Lebenszeit verkürzt. Am Beispiel der 25 Jahre alten Zulassungsstudie von Riluzol illustrierte der Neurologe die Defizite älterer Untersuchungen: Darin waren nämlich nur Überleben und Skelettmuskelfunktion (mithilfe eines inzwischen ausgemusterten Scores) geprüft worden. Ein sinnvolleres Instrument stellt die ALS-spezifische Functional Rating Scale (FRS) dar, die das gesamte Spektrum der Symptome und Funktionsstörungen gut abbildet und auch mit dem Überleben korreliert. Auch der scheinbar so harte Endpunkt Überleben erzählt nicht die ganze Geschichte: Teilhabe ist für ALS-Patienten mindestens ebenso wichtig und trägt enorm dazu bei, ob ein Patient sich für oder gegen prognostische bedeutsame Behandlungsmethoden wie die nicht-invasive Beatmung oder das Legen einer Magensonde entscheidet.

Reflux, Erbrechen und Durchfall als Nebenwirkung

Ein positiver Effekt zeigte sich bei allen Patienten auf die Krankheitsprogression, die sich im Verlauf erheblich verlangsamte, der ALS-FRS-Verlust betrug bis zum 6. Monat 0,98 Punkte, zwischen Monat 12 und 18 nur noch 0,46 Punkte. Ganz ohne Nebenwirkungen blieb die Intervention nicht, auch wenn sie insgesamt recht gut vertragen wurde. Diarrhö, Erbrechen, Verdauungsstörungen und Reflux waren die häufigsten Probleme. Eine Folgestudie an Patienten mit schneller Krankheitsprogression und höherer Kalorienmenge ist in Planung. Außerdem wäre es natürlich spannend, zu prüfen, ob die Ergebnisse auf andere neurodegenerative Erkrankungen übertragbar sind. Auch bei der medikamentösen Therapie tut sich was. Vor der europäischen Zulassung steht der Radikalfänger Edaravone, der – wie der Oldie Riluzol – den Anspruch erhebt, neuroprotektiv zu wirken. Derzeit kann man ihn aber nur als Einzelimport aus Japan oder den USA verordnen. Sein Wirkmechanismus bei der ALS ist noch ungeklärt, berichtete Professor Dr. Thomas Meyer, Chef der ALS-Ambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Studien zufolge kann Edaravone die Krankheitsprogression gemessen per ALS-FRS um etwa 30 % vermindern. Es scheint aber nur bei einer Subgruppe von Patienten zu wirken, die etwa ein Drittel der ALS-Population ausmacht. Edaravone ist ein relativ kompliziertes Medikament, das eine ausgefeilte Logistik erfordert. Es wird mit zehn Infusionen binnen 14 Tagen appliziert, gefolgt von 14 Tagen Pause. An Genehmigung, Import und Anwendung sind mehr als ein halbes Dutzend Partner beteiligt. „Wir bauen allen Patienten einen Port ein, das ermöglicht die wohnortnahe Applikation von Medikamenten durch spezialisiertes nicht-ärztliches Personal“, so Prof. Meyer. Portinfektionen sind ein Problem, nach Berliner Erfahrung kommt es in rund 15 % der Fälle dazu. Sein Team hat inzwischen 35 Patienten mit Edaravone behandelt, und er hofft auf eine orale Darreichungsform.

Schluckstörung verhindert Tabletteneinnahme

Sogar der Oldie Riluzol scheint vor einem Comeback zu stehen, seit es mit der Suspension eine anwenderfreundliche Galenik gibt. Eine Befragung von Charité-Patienten zeigt, dass sechs von zehn über Schluckstörungen klagen und rund 40 % deshalb Tabletten schlecht einnehmen können. „Für mein Gefühl ist das noch nicht richtig in der Praxis angekommen“, meinte Prof. Meyer. Seiner Ansicht nach liegt die Zukunft von Riluzol vielleicht sogar in der intra­thekalen Applikation. Das könnte die Verträglichkeitsprobleme dämpfen, die der Aufdosierung entgegenstehen. Eine Beobachtungsstudie aus Italien – mit zwar nur knapp 180 Patienten, zwei Drittel mit, ein Drittel ohne Riluzol, zehn Jahre Laufzeit – ergab, dass behandelte Patienten ein Jahr länger lebten. Möglicherweise ist die Substanz besser als ihr Ruf, kommentierte Prof. Meyer. Warum manche Patienten kein Riluzol erhielten, sei allerdings unbekannt. Zudem gab es naturgemäß keine Randomisierung, was die Aussagekraft der Studie einschränkt. Riluzol hat wohl noch Potenzial, hofft der ALS-Experte. Aber um das nachzuweisen bzw. auszuschöpfen, brauche man neue Studien und alternative Darreichungsformen.

Quelle: Neurowoche 2018