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Polypharmazie: „Verordnungskaskaden“ vermeiden!

Autor: Manuela Arand

Die Pillenkiste alter Menschen lässt 
sich oft problemlos entrümpeln. Die Pillenkiste alter Menschen lässt sich oft problemlos entrümpeln. © iStock.com/kyoshino, micut, ziquiu
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Weniger ist mehr – das sollten Ärzte stärker beherzigen, wenn es um die Pharmakotherapie im Alter geht. Und sich auch mal trauen, ein Medikament abzusetzen, vor allem wenn es rein präventiven Zwecken dient.

Natürlich gilt es, primär das bio­logische Alter des Patienten zu berücksichtigen und weniger das chronologische. Dem trägt das Konzept der „Frailty“ Rechnung. Es beschreibt, wie das Zusammentreffen von Krankheit, körperlichem und geistigem Leistungsabbau alternde Menschen beeinträchtigt. Ein kürzlich vorgestellter Frailty-Index berücksichtigt 30 Items, darunter 15 Erkrankungen, von denen wiederum die Hälfte auf kardiovaskuläre und metabolische Störungen entfällt.1 Das zeigt, welch hohe Bedeutung diese Erkrankungen beim alternden Menschen haben. Schließlich machen Kardiaka und Antidiabetika einen großen Teil der Pillenlast aus.

Es gibt einige Veränderungen, die auch fitte Senioren treffen und die bei der medikamentösen Therapie zu beachten sind, erklärte Professor Dr. Christian Funck-Brentano von der Pharmakologie der Universität Paris. Im Vergleich zu einem 20-Jährigen weist der 65- bis 80-Jährige 35 % mehr Körperfett, 8 % weniger Plasmavolumen, 17 % weniger Körperwasser insgesamt und 40 % weniger Extrazellulärflüssigkeit auf.

Diese Verteilungsräume bestimmen neben der Nieren- und Leberfunktion entscheidend, wie rasch der Körper ein Arzneimittel eliminiert. Ein hydrophiler Wirkstoff findet beim Älteren weniger Raum, sich zu verteilen, die Plasmakonzentration steigt. Bei lipophilen Substanzen ist es genau umgekehrt. Es gibt zwar keine fixen Regeln, wie darauf im Einzelfall zu reagieren ist. Erhöhte Wachsamkeit für unerwünschte Effekte ist also geboten.

Da sich pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen beim alternden Menschen schwer vorhersagen lassen, sollte das Aufdosieren neuer Arzneimittel möglichst langsam vonstattengehen. Engmaschiges Monitoring und regelmäßige Abfrage von Nebenwirkungen und unerwarteten Reaktionen sind Pflicht.

Prof. Funck-Brentano ist überzeugt, dass ohne die Hilfe von Kollege Computer bald gar nichts mehr geht, zumal immer mehr neue Arzneimittel auf den Markt drängen: „Ich habe keine Angst davor, dass uns Maschinen Konkurrenz machen könnten. Diese komplexen Situationen und Daten zu managen, wird ohne künstliche Intelligenz nicht funktionieren.“

Professor Dr. Juan Tamargo von der Universität Madrid plädierte für Zurückhaltung bei der medikamentösen Therapie im Alter: „Wenn wir betagten Patienten ein Arzneimittel verordnen, müssen wir uns sorgfältig fragen, was das Ziel dieser Behandlung ist.“ Als Beispiel nannte er die Statine, die nahezu jeder über 65-Jährige bekommt und die, einmal verordnet, nur selten wieder abgesetzt werden. „Bei betagten Patienten verlieren harte Endpunkte den Stellenwert, Lebensqualität und Alltagsfähigkeiten gewinnen Gewicht“, betonte der spanische Pharmakologe. Hier müssten sich die Kollegen auch von den Leitlinien freimachen, denen naturgemäß vor allem Endpunktstudien zugrunde liegen.

Ein Ärgernis besteht in seinen Augen darin, dass Patienten mit Polypharmazie ins Krankenhaus kommen und es mit noch mehr Polypharmazie verlassen. Folge ist nicht selten eine „Verordnungskaskade“. Patienten bekommen mehr und mehr Medikamente, um die Nebenwirkungen der letzten Verordnungen aufzufangen. Da sollen Diuretika die Knöchelödeme beseitigen, die der Kalziumantagonist verursacht hat, was sie bekanntlich nicht können. Dafür begünstigen sie Hyperglyk­ämie und Hyperurikämie, was die Verordnung von Antidiabetika und Allopurinol nach sich zieht.

Acht-Punkte-Plan gegen die Polypharmazie

  1. Regelmäßig den Medikationsplan prüfen inklusive Verordnungen, OTC, Pflanzenpräparaten und Nahrungsergänzungsmitteln. Dabei auch fragen, welche Ärzte der Patient sonst noch aufsucht, ggf. Kontakt aufnehmen
  2. Therapieziele festlegen entsprechend dem aktuellen funktionellen Status und der geschätzten Lebenserwartung
  3. Symptomatische zugunsten kausaler Therapie zurückstellen
  4. Sind alle Arzneimittel indiziert und wirksam bei der/den vorhandenen Erkrankung(en)? Verordnungsstopp erwägen für nicht-indizierte, inkompatible oder mehrfach verordnete Pharmaka (z.B. mehrere Anticholinergika gegen Inkontinenz). Hilfreich: die PRISCUS-Liste, zu finden auf www.priscus.net. Präventive Therapien beenden, wenn die Zeit bis zum Eintritt des Nutzens die Lebenserwartung überschreitet
  5. Adhärenz mit einfachen, bequemen Therapieregimen sicherstellen: Nimmt der Patient die Medikation wie vorgesehen? Hat er verstanden, weshalb er sie nehmen soll?
  6. Arznei-Arznei- und Arznei-Krankheits-Interaktionen prüfen. Gefährdet sind über 75-Jährige, vor allem wenn sie fünf oder mehr Medikamente nehmen und sich wechselwirkungsträchtige Substanzen darunter befinden. 50 % dieser Interaktionen sind vorhersagbar und vermeidbar
  7. Patienten und/oder Angehörige bzw. Hilfspersonen bei jeder Visite informieren
  8. Kommunikation zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärzten ist essenziell

(modifiziert nach Prof. Juan Tamargo, ESC 2018)

Ärzte sollten viel häufiger den Medikamentenplan ihrer alten Patienten durchsehen und alles streichen, was nicht unbedingt notwendig ist, forderte Prof. Tamargo. Seine Liste der Arzneimittel mit unklarem Nutzen ist lang: Patienten schlucken Furosemid, um leichte Knöchelödeme zu bekämpfen, Laxanzien für eine „geordnete“ Verdauung, Hypnotika, Nootropika, Antazida … Jedes dieser Präparate erhöht das Interaktionsrisiko. Er mahnte außerdem den kritischen Umgang mit therapeutischen Innovationen an: „Wir bekommen ständig neue Arzneimittel, von deren überwältigendem Nutzen man uns überzeugen will. Das Einzige, was uns weiterhilft, ist, selbst die Evidenz sorgfältig zu prüfen.“ 

Quelle: 1. Mousa A et al. Age Aging 2018; 47: 721-727