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Postkoitale Dysphorie: Angst, Unruhe und Depressionen nach dem Orgasmus

Autor: Dr. Susanne Gallus

Angst, Traurigkeit und Depression nach dem Sex sind nur einige Kennzeichen der postkoitalen Dysphorie. (Rechts: Dr. med. Jürgen Signerski-Krieger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinikum Göttingen) Angst, Traurigkeit und Depression nach dem Sex sind nur einige Kennzeichen der postkoitalen Dysphorie. (Rechts: Dr. med. Jürgen Signerski-Krieger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinikum Göttingen) © fotolia/VadimGuzhva; privat
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Auf den Höhepunkt folgt der Katzenjammer: Vier von zehn Männern ist nach dem Orgasmus zum Heulen zumute, meldete kürzlich die „Bild“. Und auch so manche Frau soll unter dem postkoitalen Seelentief leiden. Was ist dran am vermeintlich grundlosen Blues?

Es ist wie ein schwarzes Loch, das sich im Inneren öffnet: So beschreibt eine Frau ihre Gefühlslage nach dem Sex.1 Zwar mag ihre Aussage extrem erscheinen, laut einer australischen Arbeitsgruppe sind solche negativen Empfindungen aber nicht so selten wie man vielleicht glaubt – mindestens jeder Dritte hatte sie Umfragen zufolge selbst schon einmal. Sowohl Männer als auch Frauen werden von der postkoitalen Dysphorie heimgesucht. Die einen trifft es sporadisch, andere regelmäßig. Allen gemeinsam ist, dass der Blues nach einvernehmlichem und befriedigendem Geschlechtsverkehr auftritt. Unklar bleibt, was den plötzlichen Stimmungswechsel verursacht.

Wie ist das Phänomen einzuschätzen? Wir haben bei dem Psychiater und Sexualmediziner Dr. Jürgen Signerski-Krieger nachgefragt.

Die Datenlage zur postkoitalen Dysphorie ist relativ mau. Warum forschen nur so wenige Kollegen danach? Genug Aufmerksamkeit in den Medien gibt es ja.

Dr. Signerski-Krieger: In den Medien verkauft sich „Sex“ immer gut. Forschungsgelder zu bekommen ist dagegen in der Sexualmedizin bei vielen Fragestellungen fast unmöglich, es gibt kaum Pharma­interesse, wenn man von Erektionsstörungen einmal absieht. Dass es zu einem Thema wie der postkoitalen Dysphorie nur sehr wenige Publikationen gibt, ist daher nicht ungewöhnlich.

Ihrer Meinung nach hat das Thema also durchaus Relevanz?

Dr. Signerski-Krieger: Auf jeden Fall, auch im sexualtherapeutischen Alltag. Für Betroffene ist die Relevanz relativ groß. Allerdings ist die postkoitale Dysphorie nicht so häufig wie andere sexuelle Störungen, etwa Vaginismus. 

Wie beschreiben Sie die postkoitale Dysphorie?

Dr. Signerski-Krieger: Ich nenne es einen negativen Affekt nach dem Sexualakt, unter dem die Patienten leiden. Ein Affekt insofern, dass Patienten anfangen zu weinen, ängstlich oder innerlich unruhig sind oder melancholisch und depressiv werden. Es ist auch möglich, dass sie eine gewisse Aggressivität verspüren. 

Hatten Sie auch schon Patienten mit diesen Problemen?

Dr. Signerski-Krieger: Ja. Beispielsweise wurde ein Betroffener, der eine strenge religiöse Erziehung genossen hatte, nach dem Sex immer von Schuldgefühlen geplagt. Von der Stimmung her war er affekt-labiler als andere, hat beispielsweise geweint oder war traurig. 

Was könnten alles Ursachen sein?

Dr. Signerski-Krieger: Man findet Auslöser wie Missbrauchserfahrungen, die aber nicht zwingend sexueller Natur gewesen sein müssen. Es kann Patienten betreffen, die Beziehungs- oder Bindungsängste oder Beziehungsschwierigkeiten haben. Manchmal sind Betroffene auch zu stark von gesellschaftlichen Normen und Mythen geprägt, die dann die negativen Gefühle am Ende des Sexualaktes auslösen. 

Zum Beispiel die gesellschaftliche Idealisierung des „perfekten Sex“?

Dr. Signerski-Krieger: Sexuelle Mythen gibt es viele, das sehen wir bei anderen Störungen. Diese Vorstellungen können unsere Sexualität ziemlich stark beeinflussen und zu sexuellen Schwierigkeiten führen. Beispiele wären, dass man bei jedem Sexualakt einen Orgasmus haben muss, oder dass der gleichzeitige Orgasmus das Können des Liebhabers definiert. Oder dass Selbstbefriedigung eine Sünde ist. 

Wie sieht es mit biologischen Faktoren, etwa Hormonen aus?

Dr. Signerski-Krieger: Natürlich wäre es möglich, denn sexuelle Funktionsstörungen haben oft verschiedene Ursachen. Aber in diesem Zusammenhang fehlen klar die klinischen Beweise. 

Bei Sex-Themen herrscht große mediale Aufmerksamkeit. Wie kommen die Betroffenen damit klar?

Dr. Signerski-Krieger: Natürlich ist es wichtig, wie ein Journalist das Thema darstellt. Je nach Wortwahl werden unterschiedliche Assoziationen erzeugt und lassen beim Leser entsprechende Bilder entstehen. Generell beobachte ich aber einen positiven Effekt der Berichterstattung, da die Medien aufklären. Die Betroffenen erhalten eine Perspektive, sie sagen sich; „Hey, ich kenne das Problem, das hab ich auch! Endlich schreibt mal jemand darüber.“ Dadurch trauen sie sich eher zum Arzt. 

Wann besteht von ärztlicher Seite aus Handlungsbedarf?

Dr. Signerski-Krieger: Wenn der Patient darunter leidet! Es muss ja nicht immer gleich eine Psychotherapie sein. Ein in Ruhe geführtes Gespräch kann schon einen Effekt haben. Das kann bereits beim Hausarzt stattfinden, denn dieser ist meistens der erste Ansprechpartner. Auf keinen Fall darf man solche Symptome bagatellisieren und den Patienten zwischen Tür und Angel „abfrühstücken“. Im Anschluss an das Gespräch kann man überlegen, welche Hilfen der Patient benötigt und ob ein Sexualtherapeut mit ins Boot geholt werden soll. Leider gibt es von uns nicht so viele ...

Die Kennzeichen der postkoitalen Dysphorie

Die postkoitale Dysphorie tritt in der Entspannungsphase nach ansonsten befriedigendem einvernehmlichem Geschlechtsverkehr auf. Sie äußert sich durch unerklärliche Traurigkeit, Betrübtheit und Irritiertheit. Betroffene berichteten außerdem über Depressionen, Schamgefühle oder Selbstablehnung. Potenzielle Auslöser sind:
  • Negativstress, Bindungsängste, Unsicherheit, gesellschaftlicher Druck, Kontrollverlust, mangelnde Ich-Abgrenzung, Verlust des Selbstgefühls
  • psychische Störungen, sexuelle Funktionsstörungen, Missbrauch
  • genetische Faktoren möglich (Hormonsteuerung)

Wie sieht so eine Therapie aus?

Dr. Signerski-Krieger: Es gibt kein standardisiertes Verfahren. Das ist zum Großteil der fehlenden Forschung geschuldet. Der Sexualtherapeut versucht zuerst herauszufinden, worin sich die Schwierigkeiten begründen. Liegt beispielsweise eine Missbrauchssymptomatik vor, die traumatherapeutisch angegangen werden sollte, oder muss man eventuell an Verhaltensweisen wie „Nein-Sagen“ oder an der Ich-Abgrenzung arbeiten. Das Ganze ist individuell sehr verschieden.

1. Bird BS et al. Int J Sex Health 2011; 23: 14-25
2. Maczkowiack J, Schweitzer RD. J Sex Marital Ther 2018; online first
3. Schweitzer RD et al. Sex Med 2015; 3: 235-243