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Wann Sie Patienten nach einer Synkope unbesorgt zu Hause lassen können

Autor: Dr. Sascha Bock

In vielen Fällen muss ein Patient gar nicht in die Klinik eingeliefert werden. (Agenturfoto. Mit Model gestellt.) In vielen Fällen muss ein Patient gar nicht in die Klinik eingeliefert werden. (Agenturfoto. Mit Model gestellt.) © iStock.com/seb_ra
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Jeder Zweite kippt im Laufe seines Lebens wegen einer Synkope um. Oft ist die Ohnmacht harmlos – trotzdem landen sehr viele Patienten stationär in der Klinik. Wie lässt sich das ändern, fragten sich Kollegen aus ganz Europa und haben einen Plan zur Risikostratifizierung entwickelt.

Frau A. alarmiert den Notarzt, weil ihr 74-jähriger Mann nach dem Aufstehen aus dem Sessel plötzlich zusammengesackt ist. Er liege auf dem Boden, seine Arme und Beine zucken. Als der Kollege eintrifft, sitzt Herr A. jedoch komplett beschwerdefrei und vollständig orientiert am Tisch. „So präsentiert sich der typische Synkopepatient – ob zu Hause oder später in der Praxis“, weiß Dr. Gonzalo Barón Esquivias, Kardiologe am Hospital Universitario Virgen del Rocío in Sevilla. Um die Situation einzuschätzen, kommt es jetzt vor allem auf die Anamnese an.

Das bestätigt auch die neue ESC-Leitlinie, die Mitautor Professor Dr. Richard Sutton aus Monte Carlo vorstellte. Er bezeichnete die Anamnese als „wichtigsten diagnostischen Part“. Zunächst müsse sich jeder Arzt vier Fragen stellen:

  • Hatte der Betroffene wirklich das Bewusstsein verloren (s. Kasten)?
  • War es wirklich eine Synkope?
  • Wenn ja: Lässt sich diese ätiologisch einordnen (vasovagal, kardial etc.)?
  • Könnte ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bestehen (z.B. bei Herzinsuffizienz)?

Wichtige Definitionen

Vorübergehender Bewusstseinsverlust:
Kurz andauernder echter oder offensichtlicher Bewusstseinsverlust mit pathologischer motorischer Funktion (Sturz, verstärkter/abgeschwächter Muskeltonus etc.), fehlende Ansprechbarkeit (Augenzeugen) sowie Amnesie für Zeit der Bewusstlosigkeit; kann traumatisch oder atraumatisch (Synkope, Krampfanfall etc.) bedingt sein Synkope:
Vorübergehender Bewusst­seinsverlust aufgrund einer verminderten zerebralen Perfusion mit schnellem Eintritt, kurzer Dauer (ca. 30 s – 2 min) sowie schneller, spontaner und vollständiger Regeneration

Lag keine echte Synkope vor oder war der Kollaps selbst nur ein Symptom, gilt es, Differenzialdiagnosen und Grund­erkrankungen ins Auge zu fassen. Der Schlüssel einer erfolgreichen Befragung liegt in der Gesprächsführung.

Größeren zeitlichen Kontext betrachten

Erheben Sie die Anamnese mit dem Patienten, nicht durch ihn. Das heißt konkret: Offene Fragen stellen, sich Zeit nehmen und zuhören, beruhigen, nicht hinterm Computer sitzen und den Betroffenen die Umstände rund um die Synkope schildern lassen. Achten Sie auch auf Aspekte in einem größeren zeitlichen Kontext (z.B. kürzlich veränderte Medikation). Wenn möglich, ergänzen Sie die Geschichte durch Aussagen von Angehörigen oder Augenzeugen. Der 74-jährige Herr A. etwa fühlte sich vor seinem Kollaps benommen, spürte eine innere Wärme und hatte Bauchschmerzen. Muss er deshalb ins Krankenhaus? Die neben der Anamnese obligaten Punkte der initialen Evaluation helfen weiter:
  • körperliche Untersuchung
  • EKG
  • Blutdruckmessung im Liegen und während dreiminütigem Stehen (orthostatische Intoleranz?)
Oft bleiben Untersuchung und EKG unauffällig. „Trotzdem sind sie absolut notwendig“, betonte Prof. Sutton­, weil beispielsweise eine Aorten­stenose auffallen könnte. Wer nach dieser Evaluation noch an einem benignen Ereignis – beispielsweise vasovagal oder situativ bedingt – zweifelt, der geht gemäß Leitlinie zur Risikostratifizierung über (s. Tabelle). Von Risikoscores haben sich die Autoren verabschiedet. Diese bringen bei Synkopen nachweislich nicht mehr als das klinische Urteil.
Neue Kriterien zur Risikostratifizierung

Niedriges Risiko (benignes Ereignis)

Hohes Risiko (ernste Situation)

Umstände der Synkope

  • typische Prodromi einer Reflexsynkope (z.B. Benommenheit, blasse Haut, Wärme/Schwitzen, Übelkeit/Erbrechen)

  • nach plötzlichem unerwartetem Geräusch, Anblick, Geruch oder Schmerz

  • nach längerem Stehen, bei Hitze oder in Menschenmengen

  • während einer Mahlzeit oder postprandial

  • getriggert durch Husten, Defäkation, Miktion

  • bei Kopfdrehung oder Druck auf den Karotissinus (z.B. Rasur, enger Kragen)

  • nach dem Aufstehen aus dem Liegen/Sitzen

Major

  • neu aufgetretene Brustenge, Atemnot, abdominelle Schmerzen, Kopfschmerzen

  • Synkope während einer Anstregnung oder in Rückenlage

  • plötzliche Palpitationen gefolgt von Synkope

Minor (nur hohes Risiko, wenn gleichzeitig strukturelle Herzerkrankung oder auffälliges EKG)

  • keine oder nur kurze (< 10 s) Prodromi

  • Familienmitglied, dass in jungem Alter an plötzlichem Herztod starb

  • Synkope aus sitzender Position

Vorgeschichte

  • jahrelang rezidivierende Synkope (mit Niedrigrisiko-Kriterien), wobei sich die aktuelle Episode genauso anfühlt

  • keine strukturellen Herzerkrankungen

Major

  • ernste strukturelle Herzerkrankung oder KHK (Herzinsuffizienz, niedrige linksventrikuläre Ejektionsfraktion oder kürzlicher Herzinfarkt)

körperliche Untersuchung

  • Normalbefund

Major

  • ungeklärter systolischer Blutdruck < 90 mmHg

  • Anzeichen auf gatrointestinale Blutung bei der rektalen Untersuchung

  • persistierende Bradykardie (< 40 Schläge/min) im wachen Ruhezustand

  • undiagnostiziertes Systolikum

EKG

  • normales EKG

Major (Auswahl)

  • Zeichen akuter Ischämie

  • langsamer Puls (< 40 Schläge/min) bei Vorhofflimmern (VHF)

  • Schenkelblock, Erregungsleitungsstörungen etc.

Minor (Auswahl; nur hohes Risiko, wenn Anamnese zu arrhythmogener Synkope passt):

  • asymptomatische milde Sinusbradykardie oder langsamer Puls bei VHF (40–50 Schläge/min)

  • paroxysmale supraventrikuläre Tachykardie oder Vorhofflimmern

  • kurze QT-Zeit (≤ 340 ms)


„Sind Ihre Zweifel ausgeräumt und finden sich nur Niedrigrisikokriterien, müssen Sie den Patienten nicht in die Klinik schicken“, versicherte Dr. Barón. Erst bei gleichzeitigem (oder alleinigem) Vorliegen von Hochrisikofaktoren gehört er weiter abgeklärt. Der Status quo sieht aktuell jedoch anders aus: „Viel zu viele Patienten werden stationär aufgenommen“, sagte Prof. Sutton. Oft mehr als 50 % derer, die in der Notaufnahme landen. Der Experte und seine Kollegen wünschen sich, dass dieser Anteil mithilfe der Stratifizierung auf 10–20 % sinkt. Schließlich zeigen die Daten von über 10 000 Synkopepatienten, dass innerhalb von 7–30 Tagen nach Vorstellung in der Ambulanz lediglich 0,8 % sterben. Die Rate nicht-tödlicher ernster Ereignisse in diesem Zeitraum beträgt 3,6 %.

Wahrscheinlich vasovagal heißt nicht unklare Genese

Herr A. aus dem einleitenden Fallbeispiel wies mindestens drei Niedrigrisikokriterien auf. Der Blutdruck kam mit 95/50 mmHg noch nicht so recht in Schwung – unkritisch und sehr häufig nach einem Kreislaufkollaps. Allerdings offenbarte das EKG ein Blockbild, sodass letztlich mehrere Punkte einen ernsten Zustand signalisierten (Schenkelblock, Bauchschmerzen). Umfangreiche stationäre Untersuchungen gaben dann aber Entwarnung. Der Patient hatte laut Dr. Barón wahrscheinlich eine einmalige vasovagale Synkope. „Und damit keine Synkope unklarer Genese.“ Schließlich sei das diagnostische Werkzeug für vaso­vagale Ereignisse immer die Anamnese.

* European Society of Cardiology

1. Brignole M, Moya A et al. Eur Heart J 2018; 39: 1883-1948
2. Brignole M, Moya A et al. A.a.O.: e43-e80