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Zu viele Psychopharmaka in Pflegeheimen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Viel Aufmerksamkeit kann helfen, den Bedarf an Psychopharmaka zu reduzieren – die Zeit dafür fehlt oft. Viel Aufmerksamkeit kann helfen, den Bedarf an Psychopharmaka zu reduzieren – die Zeit dafür fehlt oft. © fotolia/photohraphee.eu
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Ärzte verordnen Pflege­heimbewohnern nach wie vor zu viele Psychopharmaka. Es gibt zwar nicht medikamentöse Behandlungsalternativen, die Angebote stehen in den Heimen aber nicht immer ausreichend zur Verfügung. Pflegekräfte nehmen das Ruhigstellen der Senioren deshalb hin.

Laut Pflege-Report 2017 der AOK nehmen knapp 60 % aller Pflegebedürftigen täglich fünf oder mehr verschiedene Arzneistoffe ein. Dabei findet sich in der Arzneischachtel jedes fünften Pflegebedürftigen auch ein Antidepressivum. 5 % der Pflegebedürftigen erhalten Hypnotika und Sedativa, ebenso Anxiolytika. "Ins Auge sticht der besonders hohe Anteil bei Menschen mit einer durch die Pflegekassen anerkannten Demenz. Von diesen erhält jeder Dritte ein Neuroleptikum", sagte Professor Dr. Petra A. Thürmann, Universität Witten/Herdecke, bei der Vorstellung des Reports.

Bundesweit lebt mehr als eine Million Menschen in Einrichtungen der Langzeitpflege, mehr als die Hälfte von ihnen ist älter als 85 Jahre. Eine vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Erhebung in Altenheimen mit 841 Bewohnern macht deutlich, dass Dauerverordnungen vor allem bei Demenzpatienten Alltag sind – trotz unerwünschter Nebenwirkungen wie Stürzen, Schlaganfällen oder Thrombosen.

Mehr als 40 % von ihnen haben in ihrer Dauer­medikation mindestens ein Neuroleptikum. Hinzu kommen weitere Neuroleptika und beruhigende Medikamente bei Bedarf. Prof. Thürmann findet diese hohe Verordnungsprävalenz nicht verwunderlich: Bei bis zu 90 % der Menschen mit Demenz müsse mit dem Auftreten von neuropsychiatrischen Veränderungen und bei etwa 40 bis 60 % mit psychischen Verhaltensstörungen von ausgeprägter Unruhe bis hin zu verbaler und physischer Aggression gerechnet werden.

Diese Auffälligkeiten lassen sich teilweise durch Neuroleptika dämpfen. Allerdings entspreche dies häufig nicht der Zulassung der Medikamente und auch nicht den Leit­linien, kritisiert die Direktorin des Philipp-Klee-Institutes für Klinische Pharmakologie. In Schweden würden nur 12 % der an Demenz erkrankten Heimbewohner Neuroleptika erhalten, in Finnland sind es 30 %. "Es scheint also Spielraum und Alternativen zu geben."

Verstehen und Wertschätzen hilft, kommt aber zu kurz

Der Spielraum besteht in nicht medikamentösen Alternativen, wie Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereiches Pflege des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WidO) und Mitherausgeberin des Pflege-Reports, erklärte. Ganz oben steht dabei das Verstehen und Wertschätzen der Bewohner. Das hilft, erklärten in einer schriftlichen Befragung von 4000 Pflegeheimen 89 % der Pflegekräfte.

Doch nur 68 % geben an, dass es auch häufig praktiziert wird. Ähnlich ist die Situation hinsichtlich Teamsitzungen, Fallbesprechungen und sog. sensorischer Stimulation der Bewohner (z.B. durch Snoezelen) sowie bei der Bewegungsförderung. Lediglich bei den Beschäftigungs­an­geboten hält sich Nutzen (85 %) und Anwendung (82 %) in etwa die Waage.

AOK warnt vor Pflegebetrug und Sedierungsstrategien

"Der Zeitfaktor spielt eine wesentliche Rolle, ob dem herausfordernden Verhalten von Bewohnern mit Demenz mit nicht medikamentösen Interventionen begegnet wird“, sagte Dr. Schwinger. 56 % der Befragten berichteten, dass Zeitdruck die Umsetzung solcher Verfahren teilweise beeinträchtigt oder verhindert. Befragt zum Einsatz von Psychopharmaka bei Demenz antworteten 82 % der Pflegekräfte, dass sie den Einsatz für angemessen halten. Berichtet wurde zudem, dass 56 % der Bewohner Psychopharmaka verordnet bekommen. 64 % der Befragten gaben an, dass deren Einsatz länger als ein Jahr dauert.

Vor einem Horror-Szenario des Pflegebetrugs und der Sedierungsstrategien von Heimbetreibern warnte Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Er will auch nicht die für Verordnungen verantwortlichen Ärzte an den Pranger gestellt sehen. Für ihn ist der "bewusste und kritische Umgang mit Psychopharmaka eine Teamaufgabe von Pflegeheimbetreibern und Pflegekräften sowie von Ärzten und Apothekern, die Pflegeheime betreuen". Kooperationsverträge sollten dahingehend geschlossen werden.

Kritisch sieht der AOK-Verbandschef Forderungen nach mehr Personal in den Einrichtungen. Seit Anfang 2015 seien rund zehn Mrd. Euro zusätzlich in die soziale Pflegeversicherung geflossen. Aber bis heute sei z.B. nicht wissenschaftlich bewiesen, welcher Personalschlüssel in der stationären Pflege angemessen sei. Er fordert deshalb mehr Transparenz.

Transparenz verweigert – lieber auf Geld verzichtet

Hier scheinen die Betreiber allerdings zu mauern. Bei Honorarverhandlungen in Hamburg z.B. boten die Pflegekassen eine Steigerungsrate von 4,6 % an. Bedingung war, die Pflegeanbieter legen u.a. ihre personelle und sachliche Ausstattung offen, einschließlich Vergütung und tatsächlicher Stellenbesetzung. Die Pflegeanbieter lehnten ab. Sie gaben sich stattdessen mit der Steigerungsrate von 2,3 % zufrieden.

Quelle: AOK-Pressekonferenz

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