Reizdarmsyndrom: Welche Rolle spielt der Kopf?
Für funktionelle Magen-Darm-Beschwerden liegen per Definition keine organischen Ursachen vor. Naheliegend ist daher beim Reizdarmsyndrom (RDS) die Frage: Welche Rolle spielt der Kopf? Tatsächlich ist das RDS gehäuft mit psychischen Störungen assoziiert. Doch lassen sich organische und psychische Aspekte überhaupt trennen?
Der Zusammenhang zwischen dem RDS und psychischen Störungen sowie einer erhöhten chronischen Stressbelastung ist gut belegt.1 Insbesondere für Angstsymptomatiken und Depression und ihren Einfluss auf das RDS gibt es eine breite Studienbasis. Die Prävalenz für depressive Erkrankungen von RDS-Betroffenen kann – je nach Studie – zwischen 20 % und 70 % betragen. Die Angaben für Angsterkrankungen schwanken zwischen 20 % und 50 %. Eine besondere Bedeutung kommt hier den Panikstörungen zu.1
Ursache-Wirkung in prospektiven Studien untersucht
Angst und Depressionen können auslösende Faktoren für das RDS sein – dies konnte in prospektiven Studien gezeigt werden.1 Den Zusammenhang nur als eindimensional zu verstehen, greift allerdings zu kurz: Die gastrointestinalen Beschwerden sind für Betroffene häufig sehr belastend. So entwickeln etwa zwei Drittel der Patient*innen mit RDS ohne psychische Störung zu Krankheitsbeginn diese im Laufe des 1. Erkrankungsjahres2 – ein Teufelskreis kann die Folge sein.1
Psychische Einflussfaktoren in der Anamnese abfragen
Laut der aktuellen S-3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom sollen bereits in der Basisanamnese psychische Einflussfaktoren erfasst werden.1 So können Stressfaktoren in Beruf und Familie erkannt und auch weitere Aspekte zu Stimmung und Ängstlichkeit abgefragt werden. Einfache, validierte Fragebögen sind der Hospital Anxiety and Depression Scale in seiner deutschen Version (HADS-D) und der Patient Health Questionnaire (PHQ-D).3,4
Weitere Informationen zum HADS-D und zum PHQ-D
- HADS-D: Der HADS-D besteht aus 14 Items, davon je 7 für depressive bzw. Angstsymptome und wird von Betroffenen selbst ausgefüllt. Die Bearbeitungszeit beträgt ca. 2 – 3 Minuten. Der HADS-D ist anwendbar für alle Altersgruppen ab 15 Jahren.5 Der Fragebogen ist kostenpflichtig und kann über die Testzentrale der Hogrefe Verlagsgruppe bezogen werden.
- PHQ-D: Fragebogen zur Selbstbewertung bestehend aus 78 Fragen. Abgefragt werden folgende Bereiche: somatoforme Störungen, depressive Störungen, Angststörungen, Essstörungen, Alkoholmissbrauch, psychosoziale Funktionsfähigkeit, psychosoziale Stressoren sowie Menstruation, Schwangerschaft und Geburt bei Frauen.4 Der PHQ-D und seine Varianten sind frei verfügbar.
- Vom PHQ-D gibt es viele Varianten. Eine kürzere (Bearbeitungszeit 2 min, empfohlen ab 16 Jahren) mit Fokus auf depressive Störungen ist der PHQ-9.6 Den PHQ-9 finden Sie beispielsweise hier.
RDS: Störung der Darm-Hirn-Achse
Pathophysiologisch wird das RDS laut den aktuellen Rom-IV-Kriterien auch als Störung der Darm-Hirn-Achse angesehen.7 Die Darm-Hirn-Achse bezeichnet die bidirektionale Kommunikation zwischen Magen-Darm-Trakt und Gehirn. Dabei werden dem Gehirn über afferente neurale (spinal und vagal) sowie humorale Signalwege kontinuierlich homöostatische Informationen über den physiologischen Zustand des Körpers gemeldet.8 Im Gehirn werden die Signale dann von kognitiven und affektiven Schaltkreisen verarbeitet und moduliert. Daher steht z. B. die viszerale Schmerzwahrnehmung nicht in einem linearen Verhältnis zum ursprünglich ausgehenden Signal.8 Eine erniedrigte viszerale Schmerzschwelle weist allerdings nur ein Teil von Menschen mit RDS auf.1
Wie wirkt die Psyche auf den Körper?
Ein gut untersuchtes Beispiel wie die Psyche auf den Körper wirkt, ist chronischer Stress: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) kontrolliert die Homöostase der Stresshormone Cortisol, Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und adrenokortikotropes Hormon.9 Bei RDS spielt insbesondere CRH eine wichtige Rolle: Wird das Hormon ausgeschüttet, aktiviert dies in der Folge das enterale Nervensystem: Darmmotilität und -permeabilität nehmen zu.2 Die HPA-Achse ist zudem eng mit dem Vagusnerv und dem Immunsystem verknüpft.9
Stresseffekte können sehr variabel sein und sich je nach gastrointestinalem Abschnitt, Art, Dauer und Intensität des Stresses unterscheiden.1 Dies ist auch davon abhängig, welches System der Darm-Hirn-Achse verändert ist. Häufig sind die Aktivität und Funktionalität des autonomen Nervensystems, der HPA-Achse sowie des Immunsystems betroffen.1
Fazit
Psychologische Faktoren manifestieren sich über unzählige Prozesse wie z.B. eine veränderte Hormonausschüttung, strukturelle Anpassungen im Gehirn oder eine emotionale und kognitive Modulation zum Darm ausgehender Signale.1 Die Behandlung des RDS sollte daher physische und psychische Aspekte umfassen. Psychosoziale Stressoren können zu einer Verschlechterung der Reizdarm-Symptomatik führen; hier kann ein multimodaler Therapieansatz unter Berücksichtigung der Darm-Hirn-Achse hilfreich sein. Phytopharmaka mit Multi-Target-Wirkung wie Iberogast® Classic (STW 5) und Iberogast® Advance (STW 5-II) bieten eine wirksame medikamentöse Therapieoption zur Symptomlinderung.
Literatur:
1. Layer P et al. Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM). Stand 2021. AWMF-Reg.-Nr. 021/016, unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/021-016l_S3_Definition-Pathophysiologie-Diagnostik-Therapie-Reizdarmsyndroms_2022-01_1_01.pdf (abgerufen am 06.02.2022).
2. Bischoff A. Eine Störung der Darm-Hirn-Achse, Reizdarm: Alles Psyche? Von wegen! MMW-Fortschritte der Medizin. 2018;18(160).
3. Hermann-Lingen C et al. Hospital anxiety and depression scale – Deutsche Version (HADS-D). Göttingen: Hogrefe, 1995.
4. Löwe B et al. Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D). Manual und Testunterlagen Karlsruhe: Pfitzer, 2002.
5. Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie, DDG, Diabetes und Psychologie e. V.. HADS - Angst/Depression. https://diabetes-psychologie.de/downloads/Beschreibung_HADS.pdf (abgerufen am 11.02.2022).
6. Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie, DDG Diabetes und Psychologie e. V.. Patient Health Questionnaire – Depression (PHQ‐9) https://diabetes-psychologie.de/downloads/Beschreibung_PHQ-9.pdf (abgerufen am 11.02.2022).
7. Simren M et al. Update on Rome IV Criteria for Colorectal Disorders: Implications for Clinical Practice. Curr Gastroenterol Rep. 2017;19(4).
8. Van Oudenhove L et al. Biopsychosocial Aspects of Functional Gastrointestinal Disorders. Gastroenterology. 2016.
9. Schneider E et al. Darm und Depression. Psychatrie + Neurologie. 2021;1:16-21.