Ärztemangel Auf dem Land lockt die „echte“ Medizin
Nach dem Abitur hatte ich zunächst eine Ausbildung zur examinierten Krankenschwester absolviert. Danach arbeitete ich ein Jahr lang als Krankenschwester. Mir hat dieser Beruf sehr viel Freude gemacht, ich konnte mir aber nicht vorstellen, diesen bis zum Rentenalter auszuführen. Der Wunsch nach einem Medizinstudium bestand unverändert weiter und nach erfolgreicher Bewerbung studierte ich in Tübingen und Hamburg.
Was waren die Gründe, in den öffentlichen Gesundheitsdienst zu gehen?
Nach der Geburt meiner Tochter und der Elternzeit musste ich feststellen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Klinikbetrieb schwierig ist. Ich arbeitete damals auf der Inneren Intensivstation im Dreischichtbetrieb. Ein Bekannter erzählte mir, dass im Gesundheitsamt eine Stelle frei ist. Ich bewarb mich spontan und erhielt eine Stelle. Sechs Jahre und drei Monate habe ich dann das Gesundheitsamt Ortenaukreis geleitet.
Was hat Sie nun bewogen, in die Allgemeinmedizin zu wechseln?
Es ist sicherlich außergewöhnlich, dass die Leiterin eines der zehn größten Gesundheitsämter in Baden-Württemberg eine solche Stelle aufgibt. Meine Entscheidung ist aber wohlüberlegt und voller Überzeugung erfolgt. Ich habe meine Tätigkeit, egal, ob als Krankenschwester oder Ärztin, stets als Berufung empfunden. Der Kontakt zum Menschen/Patienten spielte dabei eine große Rolle. In all den Jahren im Gesundheitsamt blieb der Wunsch, in die kurative Medizin zurückzukehren, erhalten. Die Leitung eines großen Gesundheitsamtes mit über 50 Mitarbeiter/innen gleicht der Führung eines mittelständischen Unternehmens und administrative, repräsentative, personalführende Aufgaben stehen im Vordergrund. Der Kontakt zum Menschen/Patienten/Klienten trat in den Hintergrund. Ich habe trotz der knappen Zeitreserven stets aktiv als Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen in der Infektiologie, im Gutachtenwesen, im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst mitgearbeitet, um den Kontakt zur Medizin nicht zu verlieren. Anfänglich habe ich mein Engagement als Notärztin noch wahrgenommen. Wegen zahlreicher dienstlicher Verpflichtungen war dies in der Folge nicht mehr möglich. Eine Hospitation Ende 2011 zeigte mir dann, dass ich den Bezug zur kurativen Medizin nicht verloren hatte. Einige Veränderungen im Gesundheitsamt sowie mein Wunsch, in die "echte" Medizin zurückzukehren, haben mich im letzten Jahr dazu bewogen, mich endgültig der Allgemeinmedizin zuzuwenden.
Was macht den Hausarztberuf für Sie so attraktiv?
Ich habe meine ärztliche Laufbahn in der Gynäkologie und Geburtshilfe begonnen und in der Inneren Medizin fortgesetzt. Die Tätigkeit als Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen umfasst viele medizinische Bereiche, wie Innere Medizin, Orthopädie, Pädiatrie, Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Gynäkologie, Rechtsmedizin etc., und ähnelt damit der Allgemeinmedizin, allerdings ohne deren intensive Patientenkontakte und ohne Therapiemöglichkeiten. Es gibt somit Berührungspunkte zwischen den beiden Fachgebieten. Die Tatsache, dass der Allgemeinarzt fächerübergreifend Patienten sowie ganze Familien betreut und die Tätigkeit die Sozialmedizin einschließt, interessiert mich besonders. Dem Allgemeinarzt, der den Patienten, seine Erkrankungen, sein soziales Umfeld, seine Bedürfnisse kennt, kommt eine wesentliche Aufgabe zu. Er genießt das persönliche Vertrauen des Patienten, ist in der Lage, die Gesamtsituation einzuschätzen und notwendige Schritte einzuleiten. Im Gegensatz zum Spezialisten, der den Patienten häufig nur einmalig sieht, beobachtet und steuert der Hausarzt Verläufe. Die koordinierende Funktion von Hausärzten mit ihrer langfristigen Begleitung des Patienten im diagnostischen und therapeutischen Prozess gewährleistet eine gute Versorgung mit hoher Qualität. Gerade diese Funktion wird besonders im Rahmen chronischer Erkrankungen in einer demographisch alternden Gesellschaft eine zentrale Rolle in der Zukunft spielen. Dieses breite Spektrum macht die Allgemeinmedizin für mich ausgesprochen attraktiv.
Welche Weiterbildungsmaßnahmen müssen Sie noch absolvieren?
Die von der Ärztekammer geforderten klinischen Teile der Weiterbildung habe ich voll abgeleistet. Die Anerkennung Sozialmedizin und die Weiterbildung in der psychosomatischen Grundversorgung besitze ich bereits. Es fehlen ausschließlich 24 Monate Weiterbildung in einer allgemeinmedizinischen Praxis, die ich jetzt bis Ende Dezember 2014 ableiste.
Wollen Sie sich nach der Weiterbildung selbstständig niederlassen oder angestellt in einer Hausarztpraxis mitarbeiten?
Sofern sich die Möglichkeit ergibt und die Rahmenbedingungen es zulassen, möchte ich mich selbstständig niederlassen. Eine Anstellung ist denkbar, hat aber keine Priorität.
Die Interviewfragen stellte Dr. Ingolf Dürr.
Anmerkung zum Interview
Auch wenn man das Beispiel von Frau Dr. Bengel-Flach sicher nicht verallgemeinern kann, so zeigt der Fall doch einen Weg auf, wie es gelingen kann, auch mehr junge Ärztinnen und Ärzte für den Hausarztberuf zu begeistern. Der Grundstein dazu müsste bereits im Medizinstudium gelegt werden, indem man den Studierenden die Attraktivität der Allgemeinmedizin sehr viel deutlicher nahebringt, als dies bisher geschieht.
Ein Hausarzt braucht ein umfangreiches, breites Wissen. Das heißt nicht, dass er alles behandeln kann und muss. Seine große Leistung besteht darin, den Filter zwischen den Patienten, die eine leichte Erkrankung haben, und denen, die effektiv schwer erkrankt sind, darzustellen. Das ist eine tagtägliche medizinische Herausforderung, die es in dieser Art und Weise in keinem anderen Gebiet der Medizin gibt. Finanzielle Anreize können die Entscheidung für die Hausarztmedizin und die Gründung einer eigenen Praxis dann noch unterstützen.
Dr. Ingolf Dürr
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (5) Seite 62-63
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.