Machbarkeitswahn Das Leben als Geschenk

Kolumnen Autor: G. Maio

Je mehr sich die Medizin als ein Wirtschaftsunternehmen versteht, desto mehr betreibt sie Marketing. Weil ein Unternehmen nur mit den Möglichkeiten und dem Machbaren werben kann, geriert sich die Medizin immer mehr als eine Macherin und Könnerin, die alles im Griff hat. Damit kommt sie dem modernen Menschen entgegen, dem nichts gut ist, so wie es ist. Der moderne Mensch lebt in der Erwartung, alles in seiner Hand zu haben. Die Gesundheit wird fast ausschließlich als Resultat der eigenen Lebensweise gedacht. Und Krankheit wird nicht mehr als Schicksal betrachtet, sondern fast nur noch als Folge eines ungesunden Lebensstils. Dieses Denken führt zu einer neuen Moralisierung der Krankheit und zu einer Gesellschaft des Aufrechnens. Diesem Trend des Aufrechnens und Richtens darf die Medizin sich nicht anschließen, weil er zu einer Medizin ohne Gnade führte. Es wird verkannt, dass man zwar etwas für die Gesundheit tun muss, dass die Gesundheit aber zugleich auch etwas von einem Geschenk hat, das man zu hüten hat und dessen man sich nicht brüsten kann.

Der Glaube an die grenzenlose Machbarkeit führt auch dazu, dass wir uns für die Beschaffenheit unserer Nachkommen verantwortlich fühlen. Viele Menschen empfinden es als unverantwortlich, wenn man das vorgeburtliche Leben nicht vorher testet, bevor man es annimmt. Auf diese Weise wird das Leben der eigenen Nachkommen zu einem Produkt, das man bestellt, prüft und bei Nichtgefallen auch wieder abbestellt. Die Möglichkeiten der Gentestung werden von der Medizin als zusätzliche Freiheit gepriesen. Was ist das aber für eine Freiheit, die auf Kosten eines anderen erworben wird? Wer fragt nach der Freiheit des ungeborenen Lebens? Das Geschenk des Lebens wird durch die Wahl der Eltern zum Resultat, das eben nicht unhinterfragt gut ist, sondern erst dann gut ist, wenn es unseren Erwartungen auch entspricht.

Auch das Ende des Lebens wird nicht als etwas Gegebenes angesehen, dem man nur mit Achtung begegnen kann. Stattdessen möchte man auch das Sterben unter absoluter Kontrolle haben. Kaum wird bedacht, dass die Vorstellung, auch im Sterben die Kontrolle zu behalten, widersprüchlich ist. Schon deshalb, weil das Sterben ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich unserer Kontrolle entzieht.

Der moderne Mensch lehnt aber ein Leben, das er nicht mehr selbst unter Kontrolle hat, kategorisch ab. Er möchte nur so lange leben, wie er sich selbst versorgen kann, und wenn er dann auf Hilfe Dritter angewiesen sein wird, zieht er den Tod dem Leben vor. Und die Medizin erkennt nicht, dass es eine zentrale ärztliche Aufgabe ist, Menschen in ihrer letzten Phase zu begleiten, und begleiten heißt nicht, einfach nur nach ihrem Willen zu fragen. Begleiten heißt, Trost spenden, Zuversicht geben, neuen Lebensmut ermöglichen.

Die Betreuung von Sterbenden ist nicht Dienstleistung, sondern der totale Dienst eines ganzen Menschen, der sich hingibt. Diese tröstende Begegnung des Arztes mit einem Sterbenden darf nicht der Effizienz geopfert werden, weil es in der Medizin eben Werte gibt, die unbezahlbar sind. Deswegen sollte man als Arzt nicht Marketing für das Können betreiben, sondern vor allen Dingen dem Patienten dabei helfen, Ja zu sagen zu seinem eigenen Leben, und dies auch in der schwächsten und letzten Stunde.

Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. (phil.)
Lehrstuhl für Medizinethik an der Universität Freiburg
79104 Freiburg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (2) Seite 3
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