ICD-11 Der Hausarzt steckt im Lumpensack

Kolumnen Autor: Thomas Kühlein

Die Diagnosenkodierung mit der ICD-10 wurde im Jahr 2000 zur Kontrolle ärztlicher Abrechnung per Gesetz eingeführt. Inzwischen haben sich alle daran gewöhnt. Der Kodiervorgang dauert dank EDV nur wenige Sekunden. Die Qualität der entstehenden Daten ist allerdings entsprechend schlecht.

Durch jede Form der Dokumentation oder Kodierung geht unweigerlich Information im Detail verloren. Was aber gewinnt man durch solch eine Prozedur? Ganz allgemein formuliert: Man kann über die Daten statistisch beschreiben, was die Hausärzte leisten.

Um jedoch geeignet zu sein, muss eine Klassifikation an das entsprechende Gebiet und an bestimmte Fragestellungen angepasst sein. Die ICD-10 ist als spezialistische Diagnosenklassifikation für die Beschreibung der Hausarztmedizin freilich wenig geeignet. Schon die Untersuchungen von Robert N. Braun hatten vor einem halben Jahrhundert gezeigt, dass nur ein kleiner Teil der Beratungsursachen in der Hausarztpraxis in einer exakten Diagnose mündet. Das hausärztliche Handlungsideal besteht meist im Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe und damit einhergehendem „abwartendem Offenlassen“ des Falles. Eine Kodierpflicht mit einer Diagnosenklassifikation läuft jedoch diesem Handlungsideal zuwider. Die ICD weist einerseits eine unnötige Detailgenauigkeit auf, andererseits fehlen ihr die sinnvollen Kodes auf höheren Ebenen ihrer Hierarchie. Es gibt beispielsweise keinen Kode für alle Formen von Pneumonie. Es gibt nur „J18.9 Pneumonie, nicht näher bezeichnet“. Dieser Kode stellt einen sogenannten Residualkode oder Lumpensack dar.

Die WHO arbeitet derzeit an der Entwicklung der ICD-11. Eines der Hauptziele der Entwicklung ist dabei eine sogenannte Primary Care Linearization, also eine eigene Klassifikation für den Hausarztbereich. Aber obwohl es internationale Arbeitsgruppen für die meisten Spezialgebiete gibt, wurde bis vor kurzem keine solche für den Hausarztbereich gebildet. Dies geschieht jetzt erst nach massivem Druck seitens der WONCA, der Weltorganisation der Hausärzte. Wenn also die ICD für die Hausarztmedizin nicht geeignet ist, warum müssen wir sie dann verwenden? Man könnte hier antworten: Weil sie in ihrem Aufbau die verkehrte Versorgungswirklichkeit widerspiegelt. Die Versorgung wird vom Spezialistentum dominiert. Der Hausarzt steckt im Lumpensack.

Gäbe es – wie es sinnvoll wäre – statt der aktuellen Zersplitterung der Versorgung eine klare Trennung zwischen Primär- und Sekundärmedizin mit dem Hausarzt als verantwortlichem Hauptbetreuer, gäbe es vermutlich auch eine sinnvolle Klassifikation. Solange wir uns aber mit einem Gesundheitssystem herumschlagen müssen, das die Sinnhaftigkeit einer hausarztzentrierten Versorgung nur als ein in zähen Verhandlungen errungenes Honorarzugeständnis, nicht aber als zentrales Ordnungsprinzip begreift, solange passt zu diesem Gesundheitswesen auch eine Klassifikation wie die ICD. Leider.


Autor:
Universitätsklinikum Erlangen
Allgemeinmedizinisches Institut
91054 Erlangen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (18) Seite 3
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.