Gesundheitsreformen Fortschritt nach Art der Frösche
Manchmal gewinne ich beim Blick auf das Gesundheitswesen den Eindruck, dass dieses nicht aufgrund von sorgfältigen Analysen der Versorgungsforschung weiterentwickelt wird, sondern nach den Lebensregeln und genetisch fixierten Prinzipien des Daseins der Frösche.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Professor Dr. med. Ferdinand Gerlach, sprach im Zusammenhang mit der Organisation und Entwicklung der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin von „organisierter Verantwortungslosigkeit“. Er meinte damit gleichermaßen Akteure der Ärztekammern, Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen. Nach meiner Ansicht ist Gerlachs Meinung zutreffend. Was im Gesundheitswesen im Bezug auf die Sicherstellung der allgemeinmedizinischen Versorgung stattfindet, ist in der Tat verantwortungslos oder aber bühnenreifes Kabarett, welches an das Tun und Treiben in einem Froschteich erinnert.
Die Bedeutung der Versorgungsforschung
Zur Überprüfung der Leistung eines Systems der Gesundheitsversorgung wird international die erreichte Lebenserwartung sowie die objektivierbare Morbiditätsstatistik akzeptiert. Diese Parameter weisen zwischen staatlich finanzierten und organisierten Systemen und den privat finanzierten oft keine signifikanten Unterschiede auf. Die Untertanen Ihrer Majestät der Queen leben bei 8 % Belastung der britischen Volkswirtschaft für Gesundheitskosten auch nicht kürzer als die Deutschen bei mehr als 11 % Belastung.
Mittlerweile befasst sich ein Heer von Versorgungsforschern mit diesen Fragen. Für sie ist Deutschland ein Eldorado. Hierzulande sind wegen des dualen Systems Vergleiche zwischen den Steuerungsfolgen der Patientenwünsche und den Auswirkungen politischer Entscheidungen möglich. Das sind Erfahrungen aus zwei Welten mit unterschiedlichen Wertungen und Prioritäten. Wenn man PKV und GKV angleichen will – und dies sollte man versuchen! –, so muss dies behutsam unter ständiger Begleitung durch die Versorgungsforschung geschehen. Der Fortschritt erfolgt dann zwangsläufig im Schneckentempo.
Die Entmachtung der Frösche ist unverzichtbar
Frösche sind als Labortiere der physiologischen, medizinischen und biologischen Forschung besonders gut untersucht. Sie leben in Sümpfen, vermehren sich durch Eier, ernähren sich von Insekten. Aus der Sicht von uns Menschen haben Frösche somit ein sehr eingeschränktes Weltbild. Solange sie in feuchter Umgebung mit hinreichend vielen Insekten und Schutz vor Störchen durch dichtes Schilf leben können, schadet ihnen die sehr begrenzte Wahrnehmungsmöglichkeit ihres Lebensraums nic
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Vergleicht man das deutsche Gesundheitswesen mit seiner begrenzten Überschaubarkeit mit einem Sumpf, der trockengelegt werden soll, so darf man damit nicht die Frösche beauftragen. Denn diese sehen nur Insekten, z. B. EBM-Punkte, die sie sich schnappen, und Störche, z. B. drohende Regresse, vor denen sie sich verkriechen – aber keine Reformnotwendigkeiten. Wenn Ihnen diese Vergleiche zu weit hergeholt erscheinen, dann lesen Sie die Stellungnahme der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Dort finden Sie reichlich Argumente für die Berechtigung meiner Analogien.
Allgemeinmediziner auf dem Trockenen
Jahrzehntelang haben sich auch die Vorstände, Weiterbildungsausschüsse und Versammlungen der Bundesärztekammer und der Landesärztekammern wie die Frösche verhalten. Sie haben immer mehr Fachgebiete und Spezialisierungstatbestände geschaffen und die Ärzte in spezialisierter Weiterbildung vermehrt wie die Kaulquappen. Und da der Sumpf bis jetzt groß genug war und die Zahl der Mücken und anderer Insekten für die Ernährung ausreichte, sind sie fast alle zu spezialisierten Fröschen mit Weiterbildungsabschluss herangewachsen.
Nur einige Kaulquappen hatten im Sumpf nicht mehr genug Platz. Sie landeten auf dem Trockenen und mussten Fachärzte für Allgemeinmedizin werden. Dabei haben sie es gelernt, mit wenigen Mücken auszukommen und sich auch unter kargen Lebensbedingungen einzurichten. Dies gelang aber nicht vielen, sodass die Froschpopulation in den Sümpfen überhandnahm, mit dem Resultat, dass die Insekten nicht mehr für alle reichten. So kamen zunächst einige auf die Idee, sich von den Parasiten der Igel zu ernähren. Doch das ist eine andere Geschichte.
Die wundersame Fächervermehrung durch die Bundesärztekammer ist schon vor vier Jahrzehnten durch die Hausärzte in den Gremien der Ärztekammern und KVen als Problem angesprochen worden. In einigen Bundesländern, z. B. in Niedersachsen, hat dies bereits vor 30 Jahren zu einer massiven Förderung der Weiterbildung in Allgemeinmedizin geführt. Das Programm war erfolgreich und hat ausreichende Nachwuchszahlen für die hausärztliche Versorgung generiert. Aber 1993 gewann eine Facharztmehrheit die KV-Wahlen und löste anschließend den Strukturfonds (durch Auszahlung als Honorar) auf. Es folgte ein fachärztlicher Niederlassungsboom – auch in Niedersachsen – durch die Torschlusspanik, die durch die Zulassungsbedingungen des GSG vom 21.12.1992 ausgelöst wurde.
Wenn heute insbesondere in Ballungsgebieten Überversorgung beklagt wird, und auf dem Lande selbst für die hausärztliche Versorgung der Nachwuchs fehlt, dann sind diese Probleme nicht vom Himmel gefallen, sondern durch eine wenig vorausschauende Beschlusslage der Parlamente und durch mangelnde Orientierung von Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen am Versorgungsbedarf der Bevölkerung erzeugt worden. Die beteiligten Akteure, übrigens auch der Vorstände von Krankenkassen, haben sich verhalten wie Frösche.
Allgemeinmedizin kann man nur in der Praxis lernen
Es ist nun fünf Minuten nach zwölf und ohne nichtärztliches Assistenzpersonal und ohne Umwandlung von bereits weitergebildeten Spezialgebietsärzten in Hausärzte wird bei zunehmend geriatrischem Versorgungsbedarf die Sicherstellung der Primärversorgung wohl kaum möglich sein. Besonders gefährlich ist ein Attentismus, der sich nun mittlerweile auch bei den Hausärzten etabliert. Diese haben nämlich oft trotz der Förderprogramme finanzielle Nachteile, wenn sie Weiterbildungsassistenten in ihrer Praxis beschäftigen. Allein durch liberalere Organisationsregeln für MVZ und IV lässt sich dies nicht ändern. Die Weiterbildung ausreichender Nachwuchszahlen im Angestelltenverhältnis muss auch in diesen Organisationen bezahlt werden.
Durch ausschließlich klinisch weitergebildete Internisten oder durch Ausländer wird sich der Mangel an weitergebildeten Allgemeinärzten nicht ausgleichen lassen – wenn die Patientenorientierung nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll. Nur in der Allgemeinmedizin gibt es einen obligatorischen Erfahrungszeitraum von zwei Jahren unter Praxisbedingungen, und d. h. unter Bedingungen einer nicht vorselektierten Patientenklientel.
Ohne Vorstrukturierung der Krankheitsbehandlung arbeitet nur die hausärztliche Praxis. Nur dort kann man Allgemeinmedizin lernen. Leider hat dies selbst in der Ärzteschaft noch nicht jeder verstanden, weil der niedergelassene Arzt zwar Krankenhauserfahrung hat, aber kaum ein Krankenhausarzt weiß, wie die ambulante Praxis arbeitet.
Im Ergebnis droht ohne Allgemeinmedizin den Patientinnen und Patienten in Deutschland eine krasse Verminderung der Versorgungsqualität. Und leider gibt es keine schnell wirksame Organisationsmaßnahme oder Verhinderungsstrategie, um dieses Risiko zuverlässig abzuwehren. Jede bildungspolitische Entscheidung braucht einige Jahre bis zu ihrer Umsetzung. In der Allgemeinmedizin muss man zwei Jahre warten, bis ein Facharzt mit guter klinischer Erfahrung wenigstens die Grundzüge der hausärztlichen Praxis kennt.
Referiert aus „Gesundheit und Sozialpolitik“ (November 2013)
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Interessenkonflikte: Der Artikel gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Er ist mit keiner Organisation und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz oder teilweise abgestimmt, mit der der Verfasser zusammenarbeitet oder zusammengearbeitet hat.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (13) Seite 38-39
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.