Berufspolitisches Oktoberfest „Gröhe packt die Dinge nicht nur an, sondern setzt sie auch um.“

Gesundheitspolitik Autor: R. Schmid

Selten war die Bierlaune beim traditionellen berufspolitischen Oktoberfest so gut gewesen wie bei der 42. practica 2014 in Bad Orb. Kein Wunder, dass deshalb diesmal weniger Prügel ausgeteilt wurden, sondern gerade die Spitze des Hausärzteverbandes eher auf Schmusekurs mit der Politik aus war. Ungewohnt viel Lob sprang dabei für die Bundesregierung heraus. Zum Beispiel vom Bundesvorsitzenden Ulrich Weigeldt höchstpersönlich. Die beiden Volksparteien CDU und SPD stünden als Große Koalition zum ersten Mal gemeinsam „fest auf der Seite der Hausärzte“, versicherte er allen Besuchern des politischen Oktoberfestes an den gut gefüllten Biertischen.

Beleg dafür ist für Weigeldt der Koalitionsvertrag, der jetzt mit dem Versorgungsstärkungsgesetz Schritt für Schritt umgesetzt werde. Diese eindeutige Positionierung hin zu den Hausärzten unterscheide die jetzige Bundesregierung von der Vorgängerkoalition CDU/FDP. Weigeldt: „Die waren zwar nett und freundlich, haben aber nichts gemacht.“ Dies habe auch an den „Milchbubis der FDP“ gelegen, die reine Klientelpolitik betrieben hätten, nahm Hauptgeschäftsführer Eberhard Mehl die Steilvorlage des Vorsitzenden prompt auf. Großer Applaus war ihm da sicher. Und das von Hausärzten, die in der Vergangenheit sicherlich häufig ihr (Wahl-)Heil bei den Liberalen gesucht hatten. Besonders gut kam dabei Gesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) weg, der als erster Minister seit langem nicht aus dem großen Dunstkreis des „Gesundheitssumpfes“ stamme. Mehl: „Der packt die Dinge nicht nur an, sondern setzt sie auch um.“

Zum Beispiel mit der Stärkung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und der Festigung der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV). Im neuen Gesetz wird die HzV allein schon durch die explizite Beibehaltung des Paragraf 73 b sowie den Wegfall der Refinanzierungsklausel gefestigt. Weigeldt ging sogar noch weiter: „Die HzV ist kein Momentum mehr, sondern heute bereits die 2. Form der Regelversorgung.“ Deshalb werde auch der Druck auf die KVen weiter zunehmen. Überhaupt sei es fraglich, ob die KVen aufgrund der veränderten Bereinigungsregelungen noch Add-on-Verträge abschließen können. „So wie wir das lesen, ist das das Ende der Add-on-Verträge“, verkündete Weigeldt unter großem Applaus der Teilnehmer. Die Stimmung war plötzlich so gut, wie es sich für ein Oktoberfest eben gehört.

Parität in der Vertreterversammlung ist wichtig

Und Weigeldt lief zu immer besserer Form auf. Spitzfindig kommentierte er die im Gesetzesentwurf aufgenommene Neuregelung, wonach bei Ungleichheit der Zahl von Haus- und Fachärzten in den Vertreterversammlungen (VV) eine Stimmengewichtung vorgenommen werden soll, die Parität herstellt, so: „Mehr als ein bisschen Mitleid für die Kritiker ist da nicht drin!“ Und Eberhard Mehl lieferte die Beweggründe hierfür gleich nach. In den Vollversammlungen der KVen sinke künftig die Zahl der Hausärzte relativ und absolut. Mehl: „70 % Fachärzte in den Vollversammlungen, das wird die Zukunft sein.“ In keiner KV werde es künftig aus Sicht der Hausärzte noch eine „adäquate Konstellation“ geben. Auch in den KVen in Bayern und Sachsen-Anhalt nicht, in denen die Hausärzte bislang noch ein gewichtiges Wörtchen mitreden konnten.

Wie sollen angestellte Ärzte bezahlt werden?

Die rein hausärztlichen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), für die das neue Gesetz ebenfalls den Weg ebnen soll, sieht der Hausärzteverband als weitere flexible Option für die nachrückende Allgemeinmediziner-Generation an. Eine zwingende Notwendigkeit für neue Tarifpartnerschaften sieht der Verband hingegen für die neuen Hausarzt-MVZ nicht, zumal weder der Marburger Bund noch die KBV noch der Hausärzteverband hier tariffähig wären. Für Mehl würde ein Kodex, wie ihn der Hausärzteverband gerade für die Assistenten in der ambulanten Weiterbildung auf den Weg gebracht hat, ausreichen. In den Kodex, der einer Selbstverpflichtung gleichkäme, würden Kriterien für ein Mindestgehalt, Arbeitszeit, Urlaub und Fortbildungsverpflichtungen exakt festgeschrieben werden. Gerade beim Honorar geht Mehl davon aus, dass 80 % der angestellten Ärzte ohnehin mehr verdienen werden, als es im Kodex verankert sein wird. Mehl: „Der derzeitige Marktdruck für Allgemeinmediziner ist einfach zu groß.“

Die geplante Gesetzesänderung bei den Regressen bewertete der Hausärzteverband in Bad Orb eher zurückhaltend. Zwar werde die tatsächliche Regressgefahr wohl weiter reduziert werden. Ob dies aber auch emotional in den Köpfen gerade von jungen Allgemeinärzten ankommen wird, werde sich erst noch herausstellen müssen.

HzV bald schon flächendeckend

In der zweiten Hälfte des Abends kristallisierten sich dann aber doch zunehmend zwei Schwerpunktthemen heraus: die HzV und die Weiterbildung. Bei der HzV gab es dabei durchaus Grund, das eine oder andere Glas zu erheben. Denn in zwei Jahren wird nach einer Prognose des Deutschen Hausärzteverbandes die HzV bundesweit nahezu flächendeckend etabliert sein. Die Zahl der eingeschriebenen Versicherten werde sich dann von heute 3,7 Millionen auf 7 Millionen Versicherte nahezu verdoppeln. Sagt zumindest Eberhard Mehl voraus. Der Anteil der HzV-Honorare am hausärztlichen Honorarvolumen, der derzeit bei 8,5 % liegt, dürfte deshalb auch bald zweistellig ausfallen.

Neben dem Gesetzgeber, der die HzV weiter stärken möchte, trägt nach Einschätzung Mehls auch die ärztliche Selbstverwaltung mit zu dieser Entwicklung bei. Allerdings eher unfreiwillig. So seien allein in Baden-Württemberg in jüngster Zeit 250 000 Versicherte neu in die Verträge aufgenommen worden, weil Ärzte, die bisher die HzV eher skeptisch beurteilt hatten, nun nach dem „erneuten EBM-Desaster“ (Mehl) umgeschwenkt sind. Auch ansonsten gebe es mit den HzV-Verträgen mit der TK und der IKK classic reichlich Bewegung. Den Vertrag mit der TK bezeichnete Mehl im Gegensatz zu manchen Teilnehmern auf der practica als „guten Vertrag“, obwohl darin die besonders attraktive kontaktunabhängige Pauschale P1 fehlt. Diese werde aber durch eine sehr großzügige kontaktabhängige Pauschale P2 aufgefangen, so dass auch über diesen Vertrag ein im Vergleich zur Kollektivversorgung im Schnitt um 30 % höheres Honorar pro Patient erzielt werden könne. Auch in manchen Bundesländern wie in Nordrhein-Westfalen (mit den Betriebskrankenkassen) oder in Bayern (mit dem Abschluss des Schiedsverfahrens des AOK-Vertrags) eröffnen sich für die Hausärzte neue Perspektiven.

Allerdings stießen die Verträge nicht bei allen Hausärzten auf dem Oktoberfest auf gleich große Resonanz. In Hessen beispielsweise sehe es mit der Beteiligung „eher mau“ aus, obwohl dort für eingeschriebene Patienten 18 % mehr Honorar generiert werden könne. In anderen Bundesländern wiederum wie in NRW oder Baden-Württemberg gebe es bereits derart viele Selektivverträge mit unterschiedlichen Kassen, dass die eigentlich schlanke Abrechnung von HzV-Leistungen plötzlich zu einem neuen Problem wird. Dies dürfte die Einschreibequote gerade bei Ärzten, die der Hausärzteverband noch immer für zu gering hält, nicht weiter beflügeln. Das gilt insbesondere für gemeinschaftliche Praxisformen. Da sich nur der einzelne Arzt und nicht die Praxis als Betriebsstätte in den Vertrag einschreiben kann, müssen in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Ärzten mitunter mehr als 20 unterschiedliche Selektivverträge verwaltet werden. Der Tenor der Teilnehmer auf der practica war deshalb eindeutig: „Da muss etwas passieren.“

Nachwuchs auch finanziell fördern

Dringend passieren muss auch etwas, um die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin noch weiter zu beflügeln. Die Botschaft der Teilnehmer auf dem Oktoberfest war daher eindeutig: Ärzte, die ihre Weiterbildung in der Praxis absolvieren, dürfen nicht geringer honoriert werden als die Mediziner, die ihre Weiterbildungszeit in der Klinik absolvieren. „Das muss uns der Nachwuchs wert sein“, proklamierte Monika Buchalik, Vizepräsidentin der Landesärztekammer Hessen. Doch auch hier hat die Politik bereits erste Pflöcke eingeschlagen. Eberhard Mehl begrüßt es insbesondere, dass ab Mitte 2015 rund 7 500 Stellen „garantiert“ bezahlt werden sollen und dass die KVen die Zahl an geförderten Weiterbildungsstellen nicht mehr beschneiden dürfen. Genau das sei zuletzt wiederholt passiert, wenn für die Weiterbildung von Allgemeinmedizinern wieder mal die Mittel ausgegangen waren.

In Hessen versucht man nun mit der Verbundweiterbildung Allgemeinmedizin, an der sich die Kammer, die KVen, die Krankenhausgesellschaft und die Institute für Allgemeinmedizin beteiligen, die Lage zu verbessern. Buchalik: „Die Zusammenarbeit läuft fantastisch an. Entscheidend wird aber sein, was unter dem Strich herauskommt.“ In genau einem Jahr – beim nächsten berufspolitischen Oktoberfest – wird dann nicht nur bei diesem Punkt Bilanz gezogen. Man darf schon heute gespannt sein, ob dann die Bierlaune erneut so gut sein wird.

Raimund Schmid

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (SH practica) Seite 40-43
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Standen Rede und Antwort (v. li. n. re.): 
Dr. med. Michael Mühlenfeld (Tagungspräsident der practica), Ulrich Weigeldt, Monika Buchalik (Vizepräsidentin der Landesärztekammer Hessen), Eberhard Mehl. Standen Rede und Antwort (v. li. n. re.): Dr. med. Michael Mühlenfeld (Tagungspräsident der practica), Ulrich Weigeldt, Monika Buchalik (Vizepräsidentin der Landesärztekammer Hessen), Eberhard Mehl. © Der Allgemeinarzt
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