Der Hausarzt Leistungserbringer oder Arzt?

Kolumnen Autor: Giovanni Maio

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Der moderne Arzt soll politisch gewollt ein Leistungserbringer sein, der von den Krankenkassen eingekauft eine Sachleistung abliefert und entsprechend anderer Sachleistungen im produzierenden Gewerbe nach nur messbaren Kriterien ständig kontrolliert wird.

Eine solche Situation ist nicht nur unbefriedigend, sie ist vor allem sachlich falsch. Denn der Arzt ist Arzt und kein Leistungserbringer, und er liefert keine Sachleistung, sondern er ist gefordert, in der direkten Beziehung und über die Beziehung zum Patienten erst einmal herauszufinden, was für den Patienten gut ist. Wäre das, was der Arzt leistet, einfach eine zu produzierende Sachleistung, dann könnte der Arzt nach Gebrauchsanweisung vorgehen. Beim Therapieren hingegen kann es nicht um Gebrauchsanweisungen gehen, sondern es geht um synthetisches Denken, um Erfahrung, um Sorgfalt, innere Ruhe und um Fingerspitzengefühl. Durch den verhängten Kontrollimperativ werden die Ärzte zwar ständig kontrolliert, aber de facto wird ihre eigentliche unersetzbare Leistung überhaupt nicht erfasst. Je mehr Medizin als Produktionsprozess betrachtet wird, desto mehr wird Aktionismus befördert, das Machen belohnt, das Zuhören bestraft, die Interventionszeit berechnet, die Beratungszeit übersehen und die Steigerung des Durchlaufs zum Wert erhoben.

All das liegt daran, dass die Leistung der Ärzte im Zuge einer Industrialisierung der Medizin illegitimerweise auf den dokumentierbaren Eingriff reduziert wird, Der dem Eingriff vorausgehende Prozess des sich an die Diagnose Herantastens, der Prozess der vielen informellen Gespräche, der Prozess des Nachdenkens, all das wird nicht in Anschlag gebracht. Je mehr man die Ärzte allein nach der Zahl der Eingriffe und der dokumentierbaren Parameter bewertet, desto mehr werden sie Zug um Zug selbst vergessen, dass sie eigentlich jeden Tag mehr leisten als abgebildet wird. Und weil sie das nicht mehr präsent haben, sind sie viel anfälliger, in die Ausweitung der Menge zu flüchten. Ich meine aber, sie bräuchten nicht zu flüchten, sondern müssten mit Rückgrat ihre Qualifikation verteidigen. Es muss bewusst bleiben, dass der Arzt, um ein guter Arzt zu sein, jeden Tag Probleme lösen muss und jeden Tag sich etwas einfallen lassen muss, um dem jeweils unverwechselbaren Patienten gerecht zu werden. Weil das ein so anspruchsvoller Prozess ist, wird diese genuin ärztliche Expertise immer unersetzbar bleiben. Daher sollten Ärzte sich nicht unter Wert verkaufen und stattdessen mit neuem Selbstbewusstsein ihre Qualität verteidigen, eine Qualität, die gerade bei Allgemeinärzten darin besteht, Komplexität zu bewältigen und dadurch erfahrungsgesättigte singuläre Entscheidungen zu fällen. Die Medizin der Zukunft wird nichts dringender brauchen als genau das, was Allgemeinärzte – ohne es immer präsent zu haben – jeden Tag leisten.


Autor:
Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. (phil.)
Lehrstuhl für Medizinethik an der Universität Freiburg
79104 Freiburg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (14) Seite 3
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.