Morbidität im Alter Wie lange können wir uns geriatrische Patienten noch leisten?

Kolumnen Autor: Toni Graf-Baumann

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Was für eine provokante Frage! Alter ist per se keine Krankheit, es macht jedoch für Krankheiten empfänglicher! Immobilität, Instabilität, intellektuelle Verluste und Inkontinenz sind gekennzeichnet durch degenerative Muskel-, Knochen- und Gelenkveränderungen oder kardiovaskuläre Erkrankungen mit starker Dyspnoe, was nicht selten zu Bettlägerigkeit führt, diese wiederum zu Muskelschwächen, Sarkopenie sowie Schwindel, Seh- und Hörstörungen mit erhöhter Sturzneigung. Alzheimer Demenz oder Multi-Infarkt-Demenz führen zur Reduktion der geistigen Fähigkeiten und zu kognitiven Defiziten. Eine aufwendige und immer wiederkehrende Diagnostik und/oder Differenzialdiagnostik tragen neben der zumeist Multimedikation und Pflege zu erheblichen Kosten bei.

Ziele der Therapie sind Verbesserungen der Lebensqualität und Mobilität bzw. der funktionellen Fähigkeiten, sodass anhaltende Versorgungsleistungen reduziert werden können. Über 70-Jährige erhalten im Durchschnitt 3 verschiedene Arzneimittel/Tag, 35 % erhalten 5 bis 8 verschiedene Arzneimittel/Tag, 15 % erhalten mehr als 13 verschiedene Medikamente/Tag, 80- bis 85-Jährige erhalten die höchste Anzahl täglich einzunehmender Medikamente, wobei es für letztgenannte Population die geringste Evidenz bezüglich der pharmakologischen Wirkungen und des Kosten-Risiko-Verhältnisses gibt. Kommt noch die Pflegebedürftigkeit dieser Patienten/innen dazu, kommen rasch Ausgaben zusammen, die nicht oder nicht mehr durch die eingezahlten Beiträge in die Krankenversicherungen gedeckt werden können.

Jetzt muss die Solidargemeinschaft der Versicherten eintreten, was bei der zunehmenden Zahl an alten und multimorbiden Patienten/innen begrenzt sein muss. Leider werden auch oft noch operative Eingriffe im Alter und bei bestehender Multimorbidität durchgeführt, deren Konsequenzen nicht selten lang andauernde Rehabilitationsmaßnahmen sind, alles zusammen hat wiederum hohe Kosten zur Folge, ohne dass daraus eine bessere Lebensqualität und Mobilität garantiert werden können.

Wenn gleichzeitig die Geburtenrate zurückgeht, weil bei vielen potenziellen Eltern beide arbeiten, muss diese Rechnung irgendwann nicht mehr aufgehen. Das ist aber keine akzeptable Antwort auf die oben gestellte Frage, denn in einer Gesellschaft wie der unseren ist es eine selbstverständliche Pflicht, dass Jung und Alt solidarisch füreinander einstehen. Schließlich sind Opas und Omas auch sehr willkommen, wenn sie sich liebevoll um die Enkelkinder kümmern, statt einfach ihren Lebensabend zu genießen.

Also muss an anderen Stellschrauben gedreht werden, damit diese Solidarität nicht in Gefahr kommt.


Autor:
Facharzt für Anästhesie und Intensiv- und Notfallmedizin
Lehrbeauftragter an der Univ. Innsbruck und an der ANGELL-Akademie Freiburg
79331 Teningen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (4) Seite 5
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.