Allgemeinmedizin im Studium Zwang ist uncool
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sitzen mit ihrer 5-jährigen Tochter am Tisch und wollen sie dazu bringen, ihren Spinat aufzuessen. Obwohl es sich objektiv gesehen wirklich um ein attraktives, gesundes und schmackhaftes Gemüse handelt, sieht das Ihre Tochter anders. Sie bevorzugt lieber ungesunde Pommes frites, möglichst noch mit Mayonnaise. Wie überzeugen Sie Ihre Tochter vom Nutzen des Spinats?
Vor einem ähnlichen Problem stehen derzeit auch die Medizinischen Fakultäten, wenn es darum geht, die Allgemeinmedizin für die Studierenden attraktiver zu machen. Welches Konzept könnte das Problem lösen? Bleiben wir beim Bild des Spinats. Die Strategie: Sie stellen Ihrer Tochter drei volle Teller Spinat vor die Nase, verpflichten sie, diese alle aufzuessen, und halten ihr während dieser Zeit parallel einen Vortrag über die unglaublichen gesundheitlichen und entwicklungstechnischen Vorteile. Sie verwenden Begriffe wie Ganzheitlichkeit und biopsychosoziales Wohlbefinden. Parallel soll sie Fragebögen ausfüllen, inwiefern der Spinat nun a) gesund oder b) wachstumsfördernd ist, und ob er ihr c) sehr gut oder d) gut geschmeckt hat.
Mehr Allgemeinmedizin als Innere und Chirurgie
Spontan kommt Ihnen dieses Vorgehen eher paradox vor? Vielen der Studenten auch. Nahezu alle Studienreformen der letzten Jahre halten sich an dieses Spinat-Konzept. Einige Beispiele: In den letzten Jahren wurden die Pflichtanteile im klinischen Abschnitt im Fach Allgemeinmedizin deutlich vermehrt. Die obligaten praktischen Anteile übertreffen in der Ausbildung nun sogar die Zeit, die für Innere Medizin und Chirurgie zusammen gefordert wird. Das ist an sich ein guter Gedanke. Allerdings: Es wird ähnlich wie im Beispiel oben vorgegangen. Ist ein Mehr aber immer der bessere Weg, um jemanden von der Qualität zu überzeugen? Hilft der Zwang der drei Teller hier? Nein, er ist sogar kontraproduktiv. Er schreckt ab und hemmt die Eigeninitiative, sich in ein Fach einzuarbeiten. Parallel wird eine "Theorie der Allgemeinmedizin" aus dem Boden gestampft, die kaum einen Bezug zu der eigentlich praktischen Arbeit in der Allgemeinmedizin hat. Dazu entstehen Multiple-Choice-Fragen (MC), die weder allgemeinmedizinisches Wissen testen, noch Lust an der Allgemeinmedizin vermitteln.
Die allgemeinmedizinischen Praktika werden angekündigt mit Kleingruppen als problemorientiert und praxisnah. Natürlich Pflicht, der Spinat muss schließlich gegessen werden. Ihnen wird euphorisch ein Evaluationsbogen in die Hand gedrückt, wie man denn diese Kleingruppenarbeit bewerte, bevor es in die nächste Runde geht: Wie finden Sie das Konzept? Sie wollen das Blatt am liebsten zerreißen oder moderater: schreiben, dass ein viel grundlegenderes Problem vorliegt. Würden Sie den Spinat nun essen?
Qualität ist wichtiger als Quantität
Anders als in vielen anderen klinischen Fächern sind die allgemeinärztlichen Dozenten sehr motiviert. Sie organisieren große, didaktisch geplante Konzepte, vergessen aber ein paar grundlegende Dinge.
1) Qualität ist wichtiger als Quantität: Lieber wenige brillante Kurse, in denen die Andersartigkeit des Faches präsentiert wird. So kommt Lust auf das Fach auf. Zeigen Sie die Exklusivität und was man alles damit machen kann. Vielleicht kommt man ja auf den Geschmack.
2) Lassen Sie die Studenten von sich aus kommen! Endogenes Interesse ist wichtig.
3) Wählen Sie die Dozenten gezielt aus! Ein charismatischer Allgemeinarzt bringt mehr als mittelgradige oder schlechte Betreuung in Kleingruppen.
4) Holen Sie die Studenten bei ihrem universitären Denken ab! Allgemeinmedizin ist keine Neurochirurgie, trotzdem kann sie "cool" sein.
5) Zeigen Sie die Stärken der Allgemeinmedizin auf! Eine davon ist Flexibilität und Vielseitigkeit. Aus Zwang hingegen entsteht Abneigung.
6) Bieten Sie reizvolle Angebote an! Akzeptieren Sie aber auch, wenn jemand die Mikrobiologie spannend findet.
7) Versuchen Sie nicht krampfhaft Lehrinhalt zu generieren! Die Stärke der Allgemeinmedizin ist die individuelle Entscheidung anhand von Entscheidungshilfen (Leitlinien).
8) Lieber konkrete Falldiskussionen und praktische Beispiele anbringen! MC-verkopftes Wissen lässt die Allgemeinmedizin unseriös erscheinen.
9) Fördern Sie vielfältige Antworten! In der Allgemeinmedizin ist oft der Weg das Ziel.
10) Machen Sie praktische Erfahrung attraktiv! Verpflichtung und Papierkram sind uncool. Zeigen Sie dabei auch die Lebenskonzepte von Allgemeinärzten auf. Die Studenten wollen wissen: Wie lebt denn so ein Allgemeinarzt? Wie werde ich mal selber sein?
Spinat ist cool? Alles eine Frage der Herangehensweise. Allgemeinmedizin kann das auch sein. Go for it!
Autor:
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (3) Seite 25-26
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.