Einheitlichere Nutzenbewertung in Europa – was steckt hinter Health Technology Assessments?
Medizinprodukte, die in Europa auf den Markt kommen, müssen eine CE-Markierung haben. Eine erhebliche Verschärfung der Vorgaben für Medizinprodukte wurde in der „Medical Device Regulation“ (MDR) eingeführt – dieser Prozess war bereits gestartet worden, rückte jedoch aufgrund einiger Skandale ins öffentliche Interesse. Nun soll es z.B. höhere Anforderungen an die Evidenz geben sowie Änderungen der Art, wie die von Bewertungen wirtschaftlich abhängigen „Benannten Stellen“ mit den Herstellern bei der Erteilung der CE-Markierung interagieren. Auch die Intransparenz des gesamten Verfahrens (= kein Einblick in wesentliche Inhalte der Zulassung) soll angegangen werden.
Bei Medizinprodukten wird eine CE-Markierung nicht aufgrund einer Zulassungsprozedur vergeben, wie dies bei Arzneimitteln der Fall ist. Dafür ist die EMA (European Medicines Agency) zuständig. Hinzu kommt, dass eine CE-Markierung noch nichts darüber aussagt, ob in einem gegebenen EU-Land die Kosten dafür von den Krankenversicherungen übernommen werden. In Deutschland muss dafür eine Nutzenbewertung erfolgen, diese kann im Sinne eines Health Technology Assessments (HTA) geschehen.
Nun werden also drei bislang existierende EU-Richtlinien (Directives) durch zwei Verordnungen (Regulations) ersetzt, die sich auf Medizinprodukte (Medical Device Regulation; MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVD) beziehen. Eigentlich sollte die MDR im Mai diesen Jahres verbindlich werden, bedingt durch die Coronakrise wurde dieser Termin um ein Jahr verschoben. Neu eingeführt wird eine „Koordinierungsgruppe Medizinprodukte“ (MDCG), die sich aus Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Diese Koordinierungsgruppe soll die Arbeit der Benannten Stellen prüfen und vereinheitlichen. Die MDCG soll die CE-Kennzeichnungen neuartiger Hochrisiko-Medizinprodukte zukünftig durch ein Konsultationsverfahren überprüfen (Scrutiny Procedure). Auch sollen die Expertengruppen der MDCG gemeinsame Spezifikationen vorbereiten, um so europaweit einheitliche, produktspezifische Bewertungskriterien vorzugeben.
Unangetastet bleiben der rechtliche Status und das Geschäftsmodell der Benannten Stellen, die weiterhin wirtschaftlich von der Kooperation ihrer Medizintechnikkunden abhängig sind. Da ein Hersteller sich für die CE-Markierung eine Benannte Stelle in Europa aussuchen kann, entsteht bei diesen ein Druck, die CE-Zertifizierung möglichst reibungslos und niedrigschwellig zu gestalten. Eine zentrale Behörde – vergleichbar der EMA – für den Medizinprodukte-Markt aufzubauen, ließ sich politisch nicht durchsetzen.
Keine öffentliche Datenbank für Medizinprodukte
Zusatznutzenbewertung auf nationaler Ebene
Aus Patientensicht stellt die europäische Neuregulierung durch die MDR eine deutliche Verbesserung dar. Denn regulatorische Kriterien wie Sicherheit und Leistungsfähigkeit bleiben die zentralen Punkte für die CE-Kennzeichnung. Zur Bewertung der klinischen Notwendigkeit (Zusatznutzen) und Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu bereits etablierten Medizinprodukten haben eine Reihe von europäischen Staaten einen nationalen HTA-Prozess etabliert; dieser berücksichtigt nationale Besonderheiten der Gesundheitssysteme. In Deutschland wird diese Aufgabe durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und durch das Institut für Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erfüllt. Dabei bewertet der G-BA nicht einzelne Medizinprodukte, sondern Behandlungsmethoden, deren Anwendung maßgeblich auf einem (oder mehreren) Medizinprodukt/en beruhen kann. Da der G-BA mit seinen Richtlinien über die Erstattungsfähigkeit von Methoden im deutschen System der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) entscheidet, sind die Ergebnisse solcher Bewertungen für die Hersteller von Medizinprodukten ausgesprochen relevant. Zusätzlich muss in Deutschland nach zwei zentralen Bereichen des Gesundheitssystems unterschieden werden: der ambulanten und der stationären Leistungserbringung. Wenn ein Medizinprodukt Anwendung im ambulanten Markt findet, greift das sogenannte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Dies legt grundsätzlich fest, dass eine Kostenerstattung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im ambulanten Bereich nur dann zulasten der GKV erfolgen kann, wenn diese durch die Organe der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems geprüft sind. Im Falle eines Produktes, das den Kriterien eines Hilfsmittels entspricht, kann es dann durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) gelistet werden. Beim stationären Markt ist dies anders, hier gibt es durch die „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“ einen innovationsfreundlicheren Zugang für Medizinprodukte. Deren Vergütung ist dann bis zum Zeitpunkt des expliziten Verbots möglich. Betrachtet man nun Möglichkeiten, die zu einer Nutzenbewertung führen können, gibt es im Prinzip zwei Wege:- Auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1 wird vom G-BA eine Methode bewertet – entweder mit der Idee, diese Methode in der ambulanten Versorgung neu einzuführen (§ 135 SGB V), oder mit der Idee, diese Methode aus der stationären Versorgung zu entfernen (§ 137 c SGB V). Dies erfolgt, wenn es sich herausstellt, dass der Nutzen der Methode nicht ausreichend belegbar ist und/oder sie schädlich oder unwirksam ist.
- Der zweite Weg ist obligatorisch: Vom G-BA müssen diejenigen Medizinprodukte auf Antrag eines Krankenhauses bewertet werden (§ 137 h SGB V), die Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) sind, besonders invasiv sind sowie drittens im Krankenhaus relevante Mehrkosten verursachen, die nicht über Fallpauschalen und Zusatzentgelte ausreichend vergütet werden.
Aktuell weniger Bewertungen nötig als zunächst erwartet
Beide Wege haben nur für einen geringen Anteil aller Medizinprodukte eine Bedeutung: In den ersten zwei Jahren der obligatorischen Bewertung waren lediglich zwei Methoden betroffen. Und das, obwohl der Gesetzgeber initial damit gerechnet hatte, dass bis zu 20 Medizinproduktemethoden zu bewerten wären. Die überwältigende Mehrheit aller Medizinprodukte wird im GKV-System – zumindest im stationären Leistungsbereich – weiterhin ohne Nutzenbewertung erstattet. Dies kann aus Patientensicht vorteilhaft sein, bedeutet aber, dass gewisse Risiken akzeptiert werden. Auch die Marktüberwachung ist ein wichtiges Thema: Diese erfolgt nicht durch die Benannten Stellen, sondern ist Sache der Länder in Deutschland. Auch wenn das BfArM Hinweise auf ernsthafte Probleme bei Medizinprodukten bekommt, kann diese Bundesbehörde nicht selber aktiv werden, sondern muss die jeweiligen Landesbehörden ansprechen. Bis dieser Prozess durchlaufen ist und konkrete Aktivitäten erfolgen, kann es eine erhebliche Zeit dauern. Während dieser Zeit sind die Patienten weiter Gefahren ausgesetzt, wie sie z.B. von Blutzuckermessgeräten mit ungenügender Messgüte ausgehen.Nicht ausreichend Benannte Stellen
Im Zusammenhang mit einer Überprüfung von Benannten Stellen durch die EU-Kommission kam es zu einem Wegfall einer Reihe von benannten Stellen – bisher ca. 80 in Europa. Nun gibt es anscheindend einen gewissen „Stau“. Das bedeutet, dass sich Hersteller, die sich an die verbliebenen Benannten Stellen wegen einer CE-Markierung wenden, auf eine längere Wartefrist von neun Monaten und mehr einrichten müssen. Die Hoffnung ist, dass diese verbliebenen Benannten Stellen eine gute und vergleichbare Qualität bei der Bewertung aufweisen. In Deutschland wird diese Aufgabe durch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) kontrolliert und nicht – wie vielfach vermutet – durch das BfArM. Die Benannten Stellen dürfen die Herstellung von Medizinprodukten durch unangemeldete Prüfbesuche überwachen, wobei unklar ist, ob dies wirklich erfolgt bzw. erfolgen kann, insbesondere wenn diese im Ausland angesiedelt sind.Wie sieht der geplante HTA- Prozess in Europa aus?
In der MDR wird als Kriterium die „Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses“ benannt, wobei darunter „aussagekräftige, messbare und patientenrelevante klinische Ergebnisse“ verstanden werden. Das IQWiG betrachtet insbesondere den Zusatznutzen – also eine neue Therapie im Gegensatz zur etablierten Therapie – des neuen Medizinprodukts. Dafür betrachtet das IQWiG randomisierte kontrollierte Studien (RCT) als Goldstandard bei der Evaluation von Medizinprodukten. Anfang 2018 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag vorgelegt, der vorsieht, die HTA-Verfahren in den Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen. Motivationen dafür sind:- Ressourcen sowie Zeit könnten dadurch eingespart werden, da anstelle mehrerer nationaler HTA-Prozesse nur ein zentrales Bewertungsverfahren notwendig ist. Aktuell entstehen Verzögerungen beim HTA-Prozess, wenn Länder mit weniger/keiner Expertise die Entscheidungen anderer Länder abwarten und die Ergebnisse dieser Bewertung selber sichten, um somit auf Grundlage dieser Dokumente eigene Entscheidungen treffen zu können.
- Durch einheitliche Bewertungsstandards ist es für die Hersteller einfacher, geeignete Evidenz zu generieren und aufzubereiten.