Umfangreiche Datensammlungen Kann Big Brother die Psyche schützen?

DGPPN 2023 Autor: Friederike Klein

Das Wissen darüber könnte Patienten vor brenzligen Situationen schützen. Das Wissen darüber könnte Patienten vor brenzligen Situationen schützen. © Kislinka_K - stock.adobe.com

Das Smartphone steckt voller Daten über das Alltagsleben seines Nutzers. Für das Management von psychischen Erkrankungen könnten diese Informationen hilfreich sein. Bislang scheint aber die Sorge vor einer totalen Überwachung schwerer zu wiegen.

Ob ein trockener Alkoholiker wieder zur Flasche greift oder nicht, hängt zu einem großen Teil von Umweltfaktoren ab. So berichten Patienten nach einem Rückfall meist, sie hätten Stress gehabt. „Sie sagen etwas, das plausibel ist und sie nicht zu stark belastet“, meinte Prof. Dr. Dr. ­Andreas ­Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Was tatsächlich alles vor einem Rückfall passiert ist, kann allerdings durch den Filter der Erinnerung und Annahmen darüber, was in der Therapie sagbar ist, verzerrt werden. Würde man dagegen die Sammlung von Alltagsdaten per Handy, Smartwatch & Co. in die Therapie einbinden, ließen sich die Umstände vor einem Rückfall viel präziser analysieren, erläuterte Prof. Heinz: Wo genau der Patient vor dem Ereignis war, wie seine Stimmung und sein Stresslevel waren und welche sozialen Interaktionen vorausgingen.

Im Sonderforschungsbereich „Verlust und Wiedererlangung der Kontrolle bei Suchterkrankungen“, dessen Sprecher Prof. Heinz ist,  wird derzeit eine solche appbasierte Datenerhebung untersucht. Mithilfe eines digitalen Tagebuchs, per Smartwatch aufgezeichneter Vitalfunktionen und per GPS erfasster Bewegungsmuster konnten bei Menschen mit leichtem bis moderatem Alkoholkonsum ein sehr genaues Profil darüber erstellt werden, wann sie in welchem Kontext und an welchen Orten Alkohol konsumiert hatten. Daraus lassen sich persönliche Triggerfaktoren ableiten, die bislang vielleicht übersehen wurden. Das Wissen darüber könnte Patienten vor brenzligen Situationen schützen. 

„Endlich lassen sich prospektive Daten zu diesen Fragen gewinnen statt retrospektiver Erklärungen und Rationalisierungen“, so Prof. Heinz. Ergänzt werden kann die Auswertung durch andere Daten, beispielsweise sozioökonomische Kennzahlen des Wohngebiets. Denn Armut in der Nachbarschaft ist ein Risikofaktor für die psychische Gesundheit.

Im nächsten Schritt möchten Prof. Heinz und seine Mitstreiter die Daten dazu nutzen, um eine situationsspezifische Intervention anbieten zu können. Im Mannheimer Projekt wurden die Probanden beispielsweise im Normalfall alle zwei Tage per SMS kontaktiert. Bei Hinweisen auf eine Zunahme von Triggern und riskanten Situationen meldete sich das Smartphone jedoch alle zwei Stunden.

Im Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), das sich derzeit an sechs Standorten in Deutschland im Aufbau befindet, sollen unter anderem mithilfe solcher Umweltdaten die individuellen Verläufe psychischer Erkrankungen erforscht werden. Prof. Heinz, Sprecher des DZGP, sieht aber nicht nur die großen Chancen der Technologie, also individuell auf die Betroffenen abgestimmte Präventions- und Interventionsmöglichkeiten, sondern auch Risiken. Als Beispiel nannte er China, wo das unter anderem per Smartphone erfasste soziale Wohlverhalten zu Belohnungen oder Bestrafungen führen kann.

Ein wichtiger Aspekt bei den Forschungen des DZGP ist deshalb die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Möglichkeit für die Patienten, jederzeit aus dem Projekt aussteigen zu können. „Die Fülle der persönlichen Daten ist datenschutzrechtlich ein Albtraum“, so Prof. Heinz. Die Entwicklungen im Bereich der Datennutzung und Digitalisierung, die unser aller Leben langsam erfassen, lassen auch bei ihm ein mulmiges Gefühl zurück: „Mir ist noch unklar, wie wir eine freie Gesellschaft und erst recht Menschen in unfreien Situationen davor schützen wollen, dass die Überwachung immer genauer und immer erdrückender wird.“

Quelle: DGPPN* Kongress 2023

*   Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.