Kinderkrankheiten, die es nicht gibt Hinter rätselhaften Symptomen kann sich das Münchhausen-by-Proxy-Syndrom verbergen

Autor: Dr. Andrea Wülker

Mütter mit dem Münchhausen-by-Proxy-Syndrom zeigen sich oft sehr fürsorglich und wollen bei jeder Behandlung dabei sein (Symbolbild). (Agenturfoto) Mütter mit dem Münchhausen-by-Proxy-Syndrom zeigen sich oft sehr fürsorglich und wollen bei jeder Behandlung dabei sein (Symbolbild). (Agenturfoto) © Syda Productions – stock.adobe.com

Ein Kind kommt immer wieder mit unerklärlichen Symptomen in die Klinik? Ein junger Patient wurde schon in verschiedenen Praxen vorgestellt und die Therapie will einfach nicht greifen? In manchen dieser Fälle kann ein Elternteil die gesundheitlichen Probleme des Kindes vorgetäuscht oder verursacht haben.

Beim Münchhausen-by-Proxy-Syndrom (MBPS) – benannt nach dem „Lügenbaron“ Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen – handelt es sich um eine Störung, bei der Personen bei einem anderen Menschen (meist dem eigenen Kind) Krankheiten vortäuschen oder hervorrufen und anschließend eine medizinische Behandlung verlangen. Betroffen sind meist Mütter, über die Gründe wird noch geforscht (s. Kasten).
 

Warum tun Mütter so etwas?

Auf die Motive der meist weiblichen Täter ging Diplom-Psychologin Dr. Hedwig Freitag, Epilepsieklinik Tabor, Bernau bei Berlin, ein:

  • Den Frauen geht es um Aufmerksamkeit, aber auch um Anerkennung und Bewunderung für ihre „Aufopferung“ und „Tapferkeit“ in Bezug auf das angeblich kranke Kind.
  • Ein weiteres Motiv ist die Täuschung und Hintergehung einer (ärztlichen) Autorität.
  • Auch gibt es Elemente von Zwanghaftigkeit. Die Frauen können ihr Tun deshalb nicht einfach sein lassen.

Typisch ist, dass das angeblich kranke Kind immer wieder in Arztpraxen und Kliniken vorgestellt wird und eine Vielzahl an medizinischen Untersuchungen erfolgt. Die Symptome, die beim MBPS berichtet werden, können sehr vielfältig sein und unterschiedliche Organsysteme betreffen. Doch eignen sich gerade epileptische Anfälle als vorgetäuschtes Gesundheitsproblem gut, weil der Spuk schon vorbei ist, wenn das Kind in der Klinik eintrifft, erläutert Prof. Dr. Peter Borusiak vom Kinderneurologischen Zentrum der LVR-Klinik Bonn. Erschwerend komme hinzu, dass man auch bei gesunden Kindern oft (vermeintlich) auffällige Untersuchungsbefunde in EEG oder MRT vorfindet.

Bis zur Diagnosestellung vergehen oft zwei Jahre

Die Häufigkeit des MBPS wird mit 0,5 bis 2,5 Fällen pro 100.000 Kinder und Jugendliche angegeben. Jungen und Mädchen sind gleich häufig betroffen, viele der Kinder sind noch sehr jung. Das Alter der Opfer bei der Diagnose liegt bei ca. 40 Monaten – wobei bis zur Diagnosestellung oft anderthalb bis zwei Jahre vergehen.

In einer neuropädiatrischen Umfrage in Deutschland untersuchte das Team um Prof. Borusiak 14 Kinder, die von MBPS betroffen waren. Bei elf Kindern wurden Gangstörungen, bei acht Kindern epileptische Anfälle und bei 13 Befragten zusätzlich eine diffuse Mischsymptomatik angegeben. Es erfolgten bis zu 45 EEG-Ableitungen pro Kind und bis zu sechs MRT, die meisten davon in Sedierung/Narkose. Insgesamt wurden sieben Lumbalpunktionen, acht genetische und zahlreiche weitere Untersuchungen durchgeführt.

Das alles geht an den Kleinen nicht spurlos vorüber. Die fälschliche Einordnung des Kindes als „krank“ führt zu entsprechenden Reaktionen der Umgebung und auch des Kindes. Bei folgenden Auffälligkeiten sollte man ein MBPS in Betracht ziehen:

  • Diskrepanz zwischen Anamnese, Untersuchungs- und Laborbefunden
  • unerklärlicher, ungewöhnlicher Symptomkomplex
  • schwieriger Verlauf einer i. d. R. gut behandelbaren Erkrankung
  • ausbleibende Erleichterung des Elternteils bei der Mitteilung unauffälliger Befunde und Bestehen auf weiteren Untersuchungen
  • neue Symptome nach Ausschluss von Erkrankungen
  • Geschwisterkinder, die eine ungewöhnliche Erkrankung haben oder bereits verstorben sind
  • Bezugsperson, die wegen des erkrankten Kindes emotionale oder materielle Zuwendung erhält

Wie geht man bei Verdacht auf das Münchhausen-Stellvertretersyndrom vor? „Bloß keine Alleingänge! Kinderschutz ist Teamarbeit“, betonte Prof. Borusiak und verwies auf Kinderschutzgruppen (s. Kasten).

Wichtige Anlaufstellen

  • Medizinische Kinderschutz-Hotline: 0800 19 210 00. Telefonisches Beratungsangebot für Fachpersonal bei Kinderschutzfragen. 24 Stunden erreichbar.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) bietet auf ihrer Webseite eine Übersicht über Kinderschutzgruppen und Notfallambulanzen in Deutschland: https://dgkim.de
  • In Jugendämtern ist die Beratung auch anonymisiert und überregional möglich. Man muss nicht das Jugendamt vor Ort anrufen.

Wichtig ist insbesondere die sorgfältige, belastbare Dokumentation. Meist ist eine stationäre Behandlung des Kindes erforderlich und sinnvoll – auch, um zu überprüfen, ob die Symptome aufhören, wenn die potenzielle Täterin nicht in der Nähe ist.

Ein konfrontatives Gespräch sollte man nie alleine führen und bereits im Vorfeld mögliche Konsequenzen und Handlungsoptionen eruieren. Häufig ist ein vorab erwirkter familiengerichtlicher Beschluss notwendig. Der Schutz des Kindes steht immer im Mittelpunkt. Idealerweise arbeitet pädiatrisches und psychiatrisches Personal eng zusammen und berücksichtigt dabei die Psychopathologie der Täterin.

Quelle: Kongressbericht - 62. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie