Hypnose kann eine Narkose überflüssig machen
Im menschlichen Gehirn besteht eine Arbeitsteilung zwischen Stammhirn, limbischem System und Großhirnrinde. „Evolutionär betrachtet, entspricht das Stammhirn dem ‚Reptilienhirn’, das limbische System steht auf der Stufe eines ‚frühen Säugetierdenkens’“, erklärte Anästhesist Thomas Kahlen von der Kunibertsklinik Köln. Während das Stammhirn elementare Funktionen wie Balance, Körpertemperatur oder Blutdruck regelt, ist das limbische System für Emotionen zuständig.
Die Großhirnrinde wiederum, in der das menschliche Bewusstsein und der Verstand wohnen, macht nur fünf Prozent der Gehirnmasse aus – und arbeitet im Vergleich zu den beiden anderen Hirnregionen außerdem sehr langsam. „Das limbische System agiert mit einer rasenden Geschwindigkeit von mehreren Millionen Bit pro Sekunde. Die Großhirnrinde hingegen kann Informationen nur mit 40 bis 70 Bit pro Sekunde verarbeiten“, sagte der Kollege. Im Alltag bemerke man diese Diskrepanz bei der Informationsverarbeitung etwa immer dann, wenn sich ein diffuses Gefühl bereits einstellt, lange bevor der Verstand eine Situation voll erfasst hat.
Die großen Hirnareale mit der schnellen Informationsverarbeitung sind es auch, die für die Schmerzweiterleitung verantwortlich zeichnen. „Man muss unterscheiden zwischen einem Schmerzreiz und dem Schmerzempfinden“, erklärte der Referent. Der Reiz trifft zunächst auf das Stammhirn und das limbische System, welche die elektrischen Impulse über eine komplexe neuronale Kaskade an das Bewusstsein weiterleiten. Umgekehrt bedeutet das Unterlassen der Wahrnehmung für das Gehirn deutlich weniger Aufwand. „Doch da das Schmerzempfinden entwicklungsgeschichtlich eine lebensrettende Alarmfunktion hat, schickt das Gehirn einen Schmerzreiz lieber etliche Male zu oft weiter als einmal zu wenig.“
Der OP-Kandidat versetzt sich selbst in Hypnose
Bei einer Operation allerdings ist die Wahrnehmung nicht überlebenswichtig, sondern störend – und genau deshalb wird sie von Anästhesisten mittels Narkose ausgeschaltet. Hierfür eignet sich eine Hypnose aber beinahe ebenso gut, so der Experte. Unter einer Hypnose versteht man einen Trancezustand, in dem das Bewusstsein Kontakt mit dem Stammhirn und dem limbischen System aufnimmt und es steuern kann.
„Das erlebt jeder von uns mehrmals am Tag. Immer wenn ringsum etwas eintönig ist, wendet sich unser Gehirn nach innen.“ Als Beispiele nannte er das gleichförmige Rattern einer U-Bahn oder monotone Sprechgesänge in einem Gottesdienst: „In solchen Situationen verfällt man schnell in eine Tagträumerei.“ Ein derartiger Trancezustand ist für den Organismus nebenbei bemerkt sehr erholsam, denn er senkt den Blutdruck und den Adrenalinspiegel.
Bei einer Hypnonarkose versetzt der Patient sich selbst dort hinein und tritt in Kontakt mit seinem Stammhirn und limbischen System. „Wir üben das im Aufklärungsgespräch. Es klingt vielleicht ein bisschen schräg, aber wir fordern den Patienten auf, sein Reptiliengehirn und sein limbisches System zu bitten, während der Operation keine Schmerzen weiterzuleiten.“ Wenn das Gehirn dem zustimmt, dann bleibt der OP-Kandidat während des Eingriffs wach und spürt tatsächlich keine Schmerzen.
Dass eine Hypnonarkose funktioniert, weiß man übrigens schon lange. So wurde das Verfahren bereits 1775 durch den Arzt Franz Anton Mesmer beschrieben. 1841 führte der britische Augenarzt James Braid erstmals eine Operation in Hypnose durch. Die weitere Erforschung der Methode wurde allerdings im 19. Jahrhundert durch die Entdeckung von Äther, Lachgas und Chloroform als Narkosegase aufgehalten.
Erst 1957 beschäftigte sich der Psychiater Milton H. Erickson wieder mit dem klinischen Einsatz der Hypnose. „Hätte nicht zufällig kurz nach der ersten Operation in Trance der Siegeszug der chemischen Narkose begonnen, wäre die Hypnoanästhesie heute möglicherweise längst ein Standardverfahren“, sagte Thomas Kahlen.
Das Publikum aus gestandenen Chirurgen und Anästhesisten blickte dennoch etwas skeptisch drein: „Besteht nicht die Gefahr, dass der Trancezustand unterbrochen wird und dann doch Schmerzen verspürt werden?“, fragte ein Kollege. Der Narkosearzt konnte ihn beruhigen: „Nein. Wenn erst einmal die Hürde des Hautschnitts überwunden ist, dann schwimmt der Patient quasi auf einer Welle des Erfolgs und ist derart endorphingeflutet, dass der Zustand für die restliche OP-Dauer anhält.“
Weniger Schmerzen, schneller wieder arbeitsfähig
Zum Beweis zeigte er kurze Videos von einer Schilddrüsenresektion, die in Lokalanästhesie und Hypnose durchgeführt wurde, und von einer Schulterarthroskopie, die sogar komplett in Hypnose gelang. „Die Vorteile liegen auf der Hand, nach einer solchen Narkose haben Patienten weniger postoperative Schmerzen, benötigen insgesamt weniger Analgetika, haben deshalb deutlich weniger mit postoperativer Übelkeit und Erbrechen zu tun und sind erheblich schneller wieder arbeitsfähig.“
Kindern erklärt man die Methode mit Krokodil und Bär
Die Methode eigne sich auch für Kinder, betonte der Anästhesist: „Wir erklären dem Kind die Zusammenhänge und fragen es dann, ob es sich vorstellen kann, sein Krokodil und seinen Bären zu bitten, die Schmerzen während der Operation zu unterlassen. Und ja, das funktioniert!“ Er gab allerdings zu bedenken, dass das Ganze aufgrund der intensiven Aufklärungsgespräche und Übungen sehr viel Zeit kostet. Den Kriterien, wonach Leistungen wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein müssen, entspreche das Verfahren eher nicht.