Kindliche Krebserkrankungen „Multidisziplinäre Zusammenarbeit ist unerlässlich“
Wo werden Kinder und Jugendliche mit einer Tumorerkrankung behandelt und mit welchen gesundheitlichen Folgen haben Cancer Survivors dieser Altersgruppe zu kämpfen?
Dr. Judith Gebauer: Kinder und Jugendliche werden bis zu ihrem 18. Lebensjahr in Deutschland, bis auf wenige Ausnahmen, in der Kinderonkologie behandelt. In unseren interdisziplinären Nachsorgestrukturen versorgen wir diese Patient:innen, sobald sie 18 Jahre alt und mindestens fünf Jahre seit dem Therapieende der Krebserkrankung vergangen sind.
80 % der Kinder und Jugendlichen mit Krebs können heute geheilt werden. Somit stieg der Anteil an Langzeitüberlebenden in den vergangenen Jahren deutlich. Allerdings entwickeln über zwei Drittel aller Krebsüberlebenden bereits während der ersten 20–30 Jahre nach Therapieende Erkrankungen, die durch den Tumor und dessen Behandlung im Kindesalter (mit)verursacht sind. Hierzu zählen u.a. Herzleiden, hormonelle Störungen, aber auch neue Krebserkrankungen, die z.B. nach einer Bestrahlung entstehen können. Hinzu kommen psychosoziale Folgen wie Schwierigkeiten in Schule und Beruf, aber auch chronische Erschöpfung oder depressive Episoden.
Was sind die Besonderheiten im Vergleich zu Erwachsenen?
Dr. Gebauer: Bei den Betroffenen handelt es sich häufig noch um junge Erwachsene, die zwischen beruflicher Ausbildung und eigener Kinder- und Familienplanung stehen. Sie werden mit gesundheitlichen Einschränkungen konfrontiert, die bei gleichaltrigen Erwachsenen nur selten auftreten. Zudem haben Kinder und Jugendliche nach einer überstandenen Krebserkrankung noch ihr gesamtes Leben vor sich und müssen im Hinblick auf neue Krankheiten sowie deren Behandlung gut überwacht werden.
Wie kann man potenziellen zukünftigen Folgen begegnen?
Dr. Gebauer: Verschiedene Organsysteme sind nach bestimmten Behandlungsformen besonders anfällig für Spätfolgen. Hieraus sind Empfehlungen zu Vorsorgeuntersuchungen entstanden, die im Falle des Auftretens solcher Probleme eine frühe Diagnose und bestmögliche Behandlung gestatten sollen. Zudem wurden die Erkenntnisse aus der Spätfolgenforschung in die Therapieplanung zukünftiger Patient:innen übernommen. Außerdem gewinnen präventive Maßnahmen an Bedeutung.
LESS: Spätfolgen in der Nachsorge erforschen
Die Arbeitsgruppe „Spätfolgen in der Pädiatrischen Onkologie“ – Late Effects Surveillance System, kurz LESS – untersucht Spätfolgen in der Langzeit-Nachsorge ehemals krebskranker Kinder und Jugendlicher und erfasst Daten über organ- oder medikamentenbezogene Spätfolgen, die analysiert, ausgewertet und an das Krebsregister in Mainz weitergegeben werden können. Gemeinsam mit weiteren bundesweiten Therapiestudien sowie internationalen Kolleg:innen der „International Guideline Harmonisation Group“ erarbeiten die Expert:innen von LESS fortlaufend Nachsorgeempfehlungen und Nachsorgeleitlinien für ehemals krebskranke Kinder und Jugendliche.
Wie sieht die Nachsorge aus?
Dr. Gebauer: Kinder und Jugendliche, die eine Krebserkrankung überlebt haben, erhalten beim Eintritt in die Langzeitnachsorge einen Nachsorgeplan. Dieser beinhaltet die aktuellen Empfehlungen für Vorsorgeuntersuchungen unter Berücksichtigung der damaligen Tumortherapie sowie individuelle Faktoren wie eine familiäre Belastung oder bestehende Vorerkrankungen. Je nachdem, wie intensiv die ursprüngliche Behandlung war, wird festgelegt, in welchen Abständen die Nachsorge stattfindet – in der Regel zwischen einmal im Jahr bis zu einmal in fünf Jahren. In diesem Rahmen finden dann häufig alle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen statt.
Welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen Arzt bzw. Ärztin und Betroffenen/Angehörigen?
Dr. Gebauer: Nach einer Krebsbehandlung haben nicht wenige Betroffene ein nachvollziehbares Bedürfnis, damit und mit der Notwendigkeit für regelmäßige Arztbesuche abzuschließen. Daher ist es wichtig, das Konzept der Nachsorge bereits beim ersten Kennenlernen, aber auch im Verlauf, immer wieder erneut mit den Patient:innen ausführlich zu besprechen. Denn in der Langzeitnachsorge, die häufig vor allem eine Vorsorge darstellt, liegt die Chance, mögliche spätere Erkrankungen zu verhindern bzw. rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Dies gilt es, den Betroffenen verständlich zu übermitteln.
Gerade im Rahmen der Transition sind hierbei häufig auch die Eltern der noch jungen Patient:innen involviert, um diese beim Ankommen in die neuen Versorgungsstrukturen zu unterstützen.
Welche Bedeutung hat die Multidisziplinarität?
Dr. Gebauer: Spätfolgen können unterschiedliche Organe betreffen. Hinzu kommen psychosoziale Themen, die für viele Langzeitüberlebende die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen. Um eine ganzheitliche und aufeinander abgestimmte Langzeitnachsorge anbieten und die Patient:innen hierdurch bestmöglich versorgen und begleiten zu können, ist eine multidisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich.
Welche sozialen und ökonomischen Aspekte müssen in dieser Altersgruppe bedacht werden?
Dr. Gebauer: Erhalten Kinder und Jugendliche die Diagnose Krebs, unterbricht das häufig die Schule und die Patient:innen können nach ihrer Rückkehr von Lernrückständen betroffen sein. Damit dies nicht in einer langfristigen Benachteiligung im späteren Berufsleben mündet, ist eine psychosoziale Unterstützung essenziell. Zudem leiden einige Betroffene unter persistierenden Behandlungskomplikationen oder an Spätfolgen ihrer damaligen Erkrankung, die ihre Teilhabe am späteren Arbeitsleben beeinträchtigen kann.
Hinzu kommt, dass zu Beginn i.d.R. die Eltern sehr in Therapie und Organisation der Kontrolluntersuchungen involviert sind. Je älter die Betroffenen werden, desto wichtiger ist es, dass sie selbst Verantwortung für ihre Untersuchungen und ggf. Behandlungen übernehmen. Diesen Prozess der Selbständigkeit und Autonomie zu unterstützen, stellt ebenfalls eine wichtige Aufgabe des multidisziplinären Nachsorgeteams dar.
Welche Anlaufstellen gibt es für die Betroffenen?
Dr. Gebauer: Mittlerweile gibt es an einigen universitären Zentren interdisziplinäre Langzeitnachsorgeteams, die sich aus verschiedenen Fachdisziplinen zusammensetzen. Aktuell versucht man, diese Zentren in einem nationalen Nachsorge-Netzwerk zusammenzuschließen, um hierüber eine bessere Sichtbarkeit für das Thema, aber auch eine Anlaufstelle für die Betroffenen zu bilden. Zudem sind einige Langzeitüberlebende im Bereich der Selbsthilfe sehr aktiv und beteiligen sich an vielfältigen Aktionen sowohl bei akut kranken Kindern und Jugendlichen als auch bei der Langzeitnachsorge. Ein Beispiel ist die durch die Deutsche Kinderkrebsstiftung jährlich organisierte Regenbogenfahrt.
Quelle: Interview