Kindliche Tumorentitäten Organspezifische Schwerpunkte der ersten pädiatrischen WHO Blue Books
Für einige kindliche Krebserkrankungen lehnt sich die Diagnostik zu gewissen Teilen an die Klassifikation bei Erwachsenen an. Andere unterscheiden sich so grundlegend von ihren adulten Pendants, dass die Internationale Agentur für Krebsforschung gemeinsam mit den beteiligten Expert:innen dafür eigens neue Gruppen definierte. In einer Übersichtsarbeit, erschienen in Cancer Disovery, hat ein Team um Prof. Dr. Stefan Pfister vom Hopp-Kindertumorzentrum und Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg die Neuheiten nach Entitäten geordnet zusammengefasst.
Leukämien und Lymphome
Mit knapp 39 % machen die hämatolymphoiden Krebsformen die größte Entitätengruppe bei Patient:innen unter 20 Jahren aus. Einige der adulten Krankheiten treten im Kindes- und Jugendalter so selten auf, dass sie in der pädiatrischen Klassifikation ausgeklammert wurden, etwa die chronische Neutrophilenleukämie, Polycythaemia vera oder Essenzielle Thrombozythämie. Im Vordergrund stehen stattdessen biologische und genetische Charakteristika, die die bei Kindern vorherrschenden Neoplasien definieren oder bedeutsam sind für deren Prognose bzw. als Therapieziele infrage kommen.
Rund ein Viertel bis ein Drittel aller Krebsdiagnosen im Kindesalter entfallen auf Leukämien – davon
- 80 % auf die ALL,
- 15 % auf die AML und
- 2 % auf die CML.
Unter den ALL-Patient:innen ist die B-ALL vorherrschend. Die meisten Erkrankten tragen prognostisch wichtige Mutationen wie ETV6::RUNX1 und TCF3::PBX1 (günstig) oder Hypodiploidie und KMT2A-Rearrangement (ungünstig). Auch eine BCR::ABL-ähnliche B-ALL zählt zu den Hochrisikoerkrankungen. Ihr Mutationsspektrum kann sehr heterogen sein, weshalb für eine präzise Diagnose oft mehrere Techniken eingesetzt werden müssen – z.B. Expressionsanalysen, FISH, Durchflusszytometrie und Hochdurchsatzsequenzierungen. Das Fünf-Jahres-OS der pädiatrischen ALL insgesamt beträgt heute v.a. dank risikostratifizierter Therapien rund 90 %.
Das Gesamtüberleben mit AML dagegen beläuft sich auf etwa 70 %. Die pädiatrische Klassifikation mit Schwerpunkt auf genetischen Aberrationen könnte den Fortschritt bei zielgerichteten Ansätzen unterstützen, hoffen die Autor:innen um Prof. Pfister. Für die Prognose relevante Mutationen haben sie in einer Tabelle zusammengefasst.
JMML ausschließlich bei pädiatrischen Erkrankten
Neue, pädiatriespezifische Varianten wie Fusionen oder fokale Deletionen der Gene MBNL1, SEB2 oder ELF1 raten die Kolleg:innen zu klassifizieren als AML, NOS („not otherwise specified“), mit Nennung der Alterationen im Anhang.
Unter den myeloiden Neoplasien gibt es einige Krankheiten, die ausschließlich in der Pädiatrie auftreten:
- juvenile myelomonozytische Leukämie (JMML)
- refraktäre Kindheits-Zytopenie (RCC)
- mit dem Down-Syndrom zusammenhängende, meist transiente myeloische Proliferationen
Im Übersichtsartikel und blauen Buch haben die Autor:innen deren genetische wie klinische Charakteristika zusammengetragen.
Die meisten hochmalignen Lymphome sind heilbar
Ein kleiner Anteil der Kindheitslymphome geht auf erbliche Immunschwächen oder Epstein-Barr-Infektionen zurück. Doch in der Regel bleiben Ätiologie und Prädispositionen unklar. Häufigste Entitäten sind B-Vorläufer- oder lymphoblastische T-Zell-Neoplasien, hochmaligne B-Zell-Lymphome oder ALK-positive anaplastisch-großzellige Lymphome.
Im Gegensatz zu erwachsenen Patient:innen haben Kinder und Jugendliche mit hochmalignen und Hodgkin-Lymphomen eine exzellente Prognose, gut 90 % können geheilt werden. Auch pädiatriespezifische Lymphome existieren. Das Klassifikationsschema ist nicht ganz so molekular ausgerichtet wie bei den Leukämien. Trotzdem weisen die meisten Lymphome charakteristische Alterationen auf, die in der Übersichtsarbeit tabellarisch aufgelistet sind.
Weichgewebe- und Knochentumoren
Dieses Kapitel der pädiatrischen Klassifikation lehnt sich vergleichsweise eng an die adulte Version an, mit Fokus auf die bei Kindern häufig vorkommenden Tumoren. Während 2013 noch ein Teil der Sarkome, die keiner Differenzierungslinie zugeordnet werden konnten, in die Kategorie „unklassifizierbar“ fiel, wurden diese mittlerweile – auch für Erwachsene – in molekulare Gruppen gegliedert.
Zahlenmäßig übertreffen die gutartigen Weichgewebstumoren die Sarkome bei Kindern deutlich. Am häufigsten sind myofibroblastische und vaskuläre Läsionen. Um ihr Progressionspotenzial richtig einzuordnen und abzuklären, ob sie ggf. Teil eines komplexeren Syndroms sind, müssen klinische, histologische und molekulare Ergebnisse integriert werden. Bei den vaskulären Läsionen gilt es, einige aktuelle Neudefinitionen zu beachten. So wurde u.a. der Begriff „Hämangiom“ abgelöst durch eine Gruppe neuer Termini, die die pathogenen Eigenschaften der Anomalien klarer definieren.
Sarkome der Weichgewebe machen ca. 6–7 % der pädiatrischen Krebserkrankungen aus. Am häufigsten treten Rhabdomyosarkome (RMS) auf. Analog zur erwachsenen Klassifikation werden RMS auch bei Kindern in dieselben vier Unterarten gegliedert:
- embryonal
- alveolar
- spindelzellig/sklerosierend
- pleomorph
Unter Letzterer leiden Kinder aber eher selten. Die RMS sind sehr aggressiv, sprechen jedoch gut auf Chemotherapie an. So beträgt das Fünf-Jahres-Gesamtüberleben für Erkrankte mit lokalen Tumoren mehr als 70 %.
Alle anderen Sarkome lassen sich in mittel- und hochmaligne Läsionen unterteilen. Erstere umfassen z.B. das infantile Fibrosarkom und inflammatorische myelofibroblastische Tumoren – beiden liegen ähnliche, tyrosinkinaseabhängige Krankheitsmechanismen zugrunde.
Von einfachen zu komplexen Tests vorarbeiten
Die erst kürzlich eingeführte Kategorie der „NTRK-rearrangierten spindelzelligen Neoplasien“ wurde in der pädiatrischen Ausgabe neu definiert als „pädiatrische NTRK-rearrangierte spindelzellige Neoplasie“ und in die Gruppe der myofibroblastischen Tumoren eingegliedert. So sollten klinisch-pathologische Ähnlichkeiten zu anderen Tumoren dieser Gruppe verdeutlicht werden. Insgesamt weisen die meisten, auch adult-ähnliche, Sarkome bei Kindern eine bessere Prognose auf.
Die Knochensarkome besitzen eine pädiatrische Prävalenz von 4–8 %. Rund die Hälfte sind Osteosarkome, etwa 40 % Ewing-Sarkome. Neben dem Ewing-Sarkom besteht die Gruppe der „undifferentiated small round cell sarcomas“ aus drei weiteren Kategorien. Als Treiber werden BCOR-Alterationen, CIC-Rearrangements und EWSR1-non-ETS-Fusionen unterschieden. Erstere variieren in ihrer Art noch einmal zwischen adulten und pädiatrischen Tumoren und kommen bei Kindern häufiger vor als die anderen beiden Treiber. Für die Diagnostik empfehlen die Autor:innen, verschiedene Techniken zu kombinieren und sich dabei von einfachen Tests hin zu komplexeren vorzuarbeiten.
Andere solide Tumoren
Die Expert:innen der WHO-Klassifikation der pädiatrischen Tumoren gingen soweit möglich von einem entwicklungsbiologischen Ansatz aus. Denn gerade kongenitale und neonatale Neoplasien sehen den fötalen Strukturen manchmal in der Histologie zum Verwechseln ähnlich. Paradebeispiel dafür sind Neuroblastome – der häufigste solide Tumortyp bei Kindern. Details zur Einteilung in seine verschiedenen, klinisch relevanten Subtypen finden Sie im Übersichtsartikel aufgelistet.
Auch Keimzelltumoren beleuchteten die Verfasser:innen aus entwicklungsbiologischer Sicht. Die ausgeprägte physiologische Migration erklärt, weshalb sie an allen erdenklichen Körperstellen anzutreffen sind. Weitere Blastome, die die morphologische Gewebereifung ihrer Ursprungsorgane rekapitulieren, sind das Nephroblastom sowie verschiedene Blastome des Verdauungstrakts. Letztere zählen zu den eher ungewöhnlichen Neoplasien.
Kindliche Hauttumoren entstehen u.a. aus eingewanderten Neuralleistenzellen, so etwa im Fall angeborener melanozytischer Naevi. Selten können z.B. deren ZNS-Beteiligung oder Progression zum Melanom in schwere Verläufe resultieren. Besonders aggressiv sind Melanome mit amplifizierter NRAS-Mutation. Andere pädiatrische Hauttumoren lassen sich oft schwer morphologisch einordnen, daher werden sie zusammen mit molekulargenetischen Eigenschaften beschrieben.
ZNS-Tumoren
Im aktuellen Blue Book der ZNS-Tumoren wurden bereits einige bedeutende Paradigmenwechsel berücksichtigt. Darunter das Konzept der integrierten Diagnose, molekular definierte Entitäten, neue Methoden wie Methylierungsanalysen oder eine Anpassung des Tumorgradings mit der Empfehlung, keine Einstufung anzugeben, wenn diese klinisch irreführend sein kann. In der Ausgabe zu den pädiatrischen Tumoren beleuchteten die Autor:innen darüber hinaus nur ausgewählte Entitäten in größerem Detail.
So wurden jetzt pädiatrische diffuse hochgradige Gliome klar von ihren adult-typischen Pendants abgegrenzt. In der Pädiatrie unterscheidet man vier verschiedene Typen. Eine neue Gruppe sind z.B. „Infant-type hemispheric glioma“, die meist junge Kinder betreffen und mit Tyrosinkinasefusionen einhergehen. Unter der Bezeichnung „pädiatrische diffuse niedriggradige Gliome“ setzen sich diese meist MAPK-getriebenen Tumoren nun ebenfalls klarer von den typischerweise IDH-getriebenen adulten Entsprechungen ab. Bei Kindern ist eine Progression in hochgradige Gliome sehr viel unwahrscheinlicher. Außerdem definierten die Expert:innen im Bereich der pädiatrischen niedriggradigen Gliome eine ganze Reihe neuer Entitäten.
Bei den Medulloblastomen entspricht die erste Stufe der Klassifikation der Ausgabe von 2016. Danach änderten sich mehrere Aspekte. Vom Grading niedrigmaligner Läsionen wird z.B. abgeraten, und molekulare Eigenschaften und Subtypen gegenüber den histologischen in den Vordergrund gestellt – mit Konsequenzen für mögliche Therapiedeeskalationen. Besondere Betonung fand die Routinetestung auf das Vorliegen einer Krebsdisposition. Für die Ependymome sprachen die Autor:innen eine Warnung aus: Das Grading sei problematisch. Es ist daher bei Kindern nicht mehr erforderlicher Bestandteil der Diagnose.
Krebsprädisposition
Eine genetische Veranlagung ist der vorherrschende Grund für die Entstehung von Krebs im Kindesalter – und so widmeten die Kolleg:innen im Übersichtsartikel dem Thema einen eigenen Abschnitt. Es sei wichtig zu unterscheiden, ob die Patient:innen ein bekanntes, definiertes Krebs-Prädispositionssyndrom (CPS) aufweisen, oder ob sie lediglich ein Risikoallel in sich tragen. Letzteres sei vermutlich bei jedem oder jeder pädiatrischen Betroffenen der Fall. Die Häufigkeit der CPS unter den kindlichen Krebserkrankten wird auf mindestens 10 % geschätzt. Und es werden kontinuierlich neue beschrieben, v.a. seit vermehrt genetische und genomische Hochdurchsatzmethoden zum Einsatz kommen.
Diese Sequenzierungen brachten auch ans Licht, dass Kinder häufig Keimbahnvarianten in Genen tragen, welche typischerweise in adulten CPS mutiert sind (z.B. Mismatch-Reparaturgene oder BRCA1/2). Das Risikopotenzial solcher Varianten, die selten auch bei Gesunden nachgewiesen werden, ist oft noch Gegenstand der Forschung.
Interdisziplinarität wird groß geschrieben
Zur systematischen Diagnose der CPS haben Forschende klinische Tools entwickelt. Doch diese decken einen signifikanten Anteil der Syndrome nicht ab. Sie dennoch zu erkennen bleibe eine herausfordernde Aufgabe für Patholog:innen und Genetiker:innen, die sich deshalb aktiv in interdisziplinäre Teams einbringen sollten. Zudem gelte es, bei der Diagnose von CPS wie auch z.B. heterozygoter BRCA-Varianten, ethische Aspekte zu berücksichtigen.
Insgesamt erwartet das Team um Prof. Pfister, dass sich das Forschungsfeld der Krebsprädisposition bei Kindern in den kommenden Jahren weiterentwickeln wird. Sie sehen darin Chancen für eine verbesserte Prävention oder mögliche neue Interventionen.
Quelle: Pfister S et al. Cancer Discov 2022; 12: 331-355; DOI: 10.1158/2159-8290.CD-21-1094