Schamgefühle positiv sehen und lernen, mit ihnen umzugehen

Autor: Michael Brendler

Verschiedenste Ansatzmöglichkeiten lassen die Scham verschwinden. Verschiedenste Ansatzmöglichkeiten lassen die Scham verschwinden. © iStock/Koldunova_Anna

Schamgefühle lassen sich in der Medizin kaum vermeiden, weder aufseiten der Patienten, noch beim Personal. Statt die Emotion ausschließlich negativ zu sehen, sollte man sie als positive Ressource nutzen.

Scham und Schmerz sind vermutlich eng miteinander verbunden. Einige Wissenschaftler bezeichnen das Gefühl der Peinlichkeit gar als sozialen Schmerz. Umgekehrt können Schmerzen zu Schamgefühlen führen, besonders chronische, schreibt Birgit Scheytt vom Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie Emmendingen. Häufig schämen sich Patienten ihrer Schmerzen, weil sie befürchten, als wehleidig oder überempfindlich zu gelten.1

Auch sonst gibt es reichlich Anlässe, im Kontakt mit medizinischem Fachpersonal Scham zu entwickeln. Wenn etwa Gefühle und Schwächen offenbart, körperliche oder psychische Tabugrenzen in Anamnese und Untersuchung überschritten werden.

Wie jemand auf solche Dinge reagiert, wird stark durch Kindheitserfahrungen geprägt, erklärt Professor Dr. Dr. Claude-Hélène­ Mayer von der Abteilung für Organisationspsychologie der Johannesburger Universität.2 Was die Sache erschwert: Scham kann „ansteckend“ sein und auf Ärzte und Fachpersonal übergreifen. Als hätten diese nicht oft genug mit eigenen Schamgefühlen zu kämpfen, zum Beispiel aufgrund von Fehlern oder Unsicherheiten.

Die positive Botschaft von Prof. Mayer: All dem kann man entgegenwirken. Dafür kommt es in der Arzt-Patienten-Interaktion besonders auf eine professionelle Allianz zwischen den Beteiligten an, in der sich offen, respektvoll und konstruktiv verhalten wird. Die Ärzte können ihren Patienten z. B. Entscheidungen transparenter erklären, ihnen Mut zusprechen oder sie loben. Wichtig ist aber auch, Grenzen zu setzen und offen mit eigenen Fehlern umzugehen.

Copingstrategien erlernen und nutzen

Dennoch, das Erzeugen von Scham wird eine Nebenwirkung der ärztlichen Behandlung bleiben. Deshalb müsse man das Gefühl beim anderen erkennen, verstehen und ihm helfen, damit umzugehen. Neben speziellen Therapien und Trainings (s. Kasten) gibt es verschiedene Copingmechanismen, z.B.:

  • Veränderungen schaffen (Kontextwechsel),
  • neue Verhaltensweisen und Selbstreflexion lernen (Ruhe bewahren, aus Fehlern lernen),
  • eine positiven Haltung gegenüber Scham entwickeln,
  • körperlich reagieren, z.B. Weinen, Singen, Spazierengehen.

Werden solche Strategien nicht genutzt, können Schamgefühle zu Isolation, Wut und Zorn führen.

Scham zur Ressource wandeln

Chronische Schmerzpatienten mit erhöhten Schamgefühlen lernen in der Compassion-Focused-Therapy ihr Schamerleben und die damit verbundene Selbstkritik zu verringern. Die Therapie begleitet die ärztliche Behandlung und soll die Akzeptanz der Patienten sich selbst und anderen gegenüber fördern. Bei der Neubewertung von Scham als positive Ressource kann auch die Akzeptanz- und Commitment-Therapie oder die Comprehensive Distancing Therapy helfen, erklärt Prof. Mayer.

Auf der anderen Seite zeigt die neuere Forschung auch: Gelingt es, Scham in einen positiven Kontext zu übertragen, lassen sich die Gefühle als positive Ressource nutzen, etwa um Empowerment und Selbstbestimmung bei den Patienten zu fördern. Dazu beitragen können Ärzte, wenn sie das Gespräch mit ihnen über das Thema suchen und ihnen helfen, Scham aus einer gesünderen Perspektive zu sehen.

Quellen:
1. Scheytt B. Schmerzmedizin 2019; 35: 38-39
2. Mayer C-H. A.a.O.: 40-42