1A-Award Vernetzte Kinderkliniken ausgezeichnet
So brillant die Idee ist, sie liegt eigentlich auf der Hand. Warum gab es eine solche Vernetzung bislang nicht?
Prof. Dr. Matthias Keller: Das Problem ist, dass wir im Gesundheitswesen und insbesondere bei den klinischen Informationssystemen im Krankenhaus weit hinter den Möglichkeiten der Digitalisierung liegen. Die Ursachen sind vielfältig. Sicher liegt es auch daran, dass in Deutschland oftmals der notwendige Pragmatismus fehlt, Bürokratie und Regularien überbordend sind.
Was war die größere Herausforderung: Die technische Umsetzung oder der Mindshift bei den Entscheidern?
Prof. Dr. Matthias Keller: Weder noch. Wir haben unter den Chefärzten der bayerischen Kinderkliniken klar herausgearbeitet, dass wir pragmatische und effiziente Lösungen benötigen, die in der Anwendung einfach und praktikabel sind und die der Lebensrealität der Nutzer entsprechen. Auch der damalige bayerische Gesundheitsminister, die verantwortliche Fachebene im bayerischen Gesundheitsministerium und die Partner der Bayerischen Krankenhausgesellschaft waren von diesem Ansatz überzeugt. Die größte Herausforderung war und ist dann leider die Bürokratie.
Eine intensive Zusammenarbeit unter Kliniken – ist das heute die Regel oder eher die Ausnahme?
Prof. Dr. Matthias Keller: Aus meiner Erfahrung ist das eher die Regel. Tatsache ist aber auch, dass es Konkurrenzsituationen zwischen Kliniken gibt und einige Chefärzte sich mit Kooperationen leichter tun als andere.
Was war die Initialzündung?
Prof. Dr. Matthias Keller: Nach der großen Infektwelle im letzten Winter und den katastrophalen Zuständen in den Kliniken war klar, dass etwas passieren muss – und zwar schnell. Wir wollten mit unserer Lösung „live“ sein, bevor die nächste Welle anrollt.
Was waren die größten Hürden?
Prof. Dr. Matthias Keller: Das waren leider die Bürokratie und der Datenschutz. Jede Klinik hat einen eigenen Datenschützer, zum Großteil zusätzlich externe Unternehmen. Hier war die Bandbreite sehr groß und es hat sich gezeigt, dass man in Deutschland sehr viel verhindern oder verzögern kann, wenn man will oder halt auch nicht. Als Ärzte mit der ärztlichen Schweigepflicht ist uns der Datenschutz sehr wichtig. Als einfacher Nutzer jedoch, dem das Wohl des Kindes am Herzen liegt, sind einige Einwände nahezu absurd. Aus meiner Sicht wird hier die Zielorientierung oftmals komplett aus den Augen verloren.
Sie haben das Projekt sehr schnell umgesetzt – wie war das möglich?
Prof. Dr. Matthias Keller: Dies geht nur gemeinsam. Zunächst war es wichtig, alle Kliniken mit an Bord zu bekommen. Dies geht nur, wenn wir akzeptieren, dass in Bayern alle Kinderkliniken eine wichtige Aufgabe haben – die großen genauso wie die kleinen, die universitären wie die nicht-universitären. Es ist keiner wichtiger als der andere. Außerdem war die Unterstützung des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege sowohl auf der Fachebene als vom Minister selbst entscheidend.
Welche Prioritäten haben Sie bei der Umsetzung gewählt?
Prof. Dr. Matthias Keller: Wichtig war die bewusste Entscheidung, mit der Universität Passau einen externen Partner mit hoher Kompetenz im IT-Bereich an Bord zu holen, der für die technische Umsetzung der Plattform verantwortlich ist. Auch hier stieß die Idee auf offene Ohren, genauso wie bei den Verantwortlichen der Bayerischen Krankenhausgesellschaft und der Gematik.
Läuft in der Umsetzung aktuell alles nach Plan? Wo mussten Sie nachbessern?
Prof. Dr. Matthias Keller: Wir sind noch in der Startphase, aber es wird sicherlich einiges geben, was wir anpassen müssen. Zunächst gilt es zu evaluieren, wie das System benutzt wird und ob es tatsächlich die geplanten Vorteile bring
Über den Gewinner
Prof. Dr. Matthias Keller (49) ist seit über zehn Jahren Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Kinderklinik „Dritter Orden“ in Passau. Er ist Vorsitzender des Landesverbandes Bayern der leitenden Kinderärzte (VLKKD) und gründete 2017 die Stiftung Kinderlächeln.
Was sind die nächsten Meilensteine?
Prof. Dr. Matthias Keller: Nächstes Jahr wollen wir das System inhaltlich um den Bereich der telemedizinischen Visiten in der Kinderintensivmedizin ergänzen. Technisch darf hier keine Insellösung entstehen. Deswegen stehen wir im engen Austausch mit der Gematik und Klinik IT eG, um die Anbindung an die KIS-Systeme und die Gematik zu planen.
Wie sieht es mit der weiteren Finanzierung aus?
Prof. Dr. Matthias Keller: Aus meiner Sicht wird die telemedizinische Vernetzung ein Schlüssel für eine flächendeckende Versorgung sein. Deshalb muss die Finanzierung von telemedizinischen Plattformen und Konsilen in der Krankenhausreform mitgedacht und nachhaltig finanziert werden. Auch hier wollen wir frühzeitig in den Dialog mit den Kostenträgern eintreten. Es darf nicht sein, dass dieses Projekt ein Strohfeuer wird.
Gibt es schon Anfragen aus anderen Bundesländern oder von ärztlichen Fachgesellschaften, die das Projekt gerne kopieren möchten?
Prof. Dr. Matthias Keller: In der Tat gibt es schon Nachfragen. Wir sind alle für Kooperationen und das Teilen unserer Erfahrungen offen. Schließlich geht es ausschließlich darum, eine bessere medizinische Versorgung zu erreichen.
Sie leiten die Kinderklinik in Passau, mindestens ein Fulltime-Job. Woher haben Sie die Zeit und die Energie für das Projekt genommen?
Prof. Dr. Matthias Keller: Zeit ist ein hohes, knappes Gut. Deswegen sind ein gewisses Zeitmanagement, Effizienz und die Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, im Alltag hilfreich. Aber der Schlüssel ist ein super Team, tolle Partner und die Konzentration auf Lösungen. Klar ist aber auch, dass dies alles nicht in einer 40-Stunden-Woche zu schaffen ist.
Woher kommt denn diese Energie?
Prof. Dr. Matthias Keller: Ich habe das große Glück, dass sie mir sozusagen in die Wiege gelegt wurde. Ich bin ein positiver Mensch und habe viel Energie und Willen zum Gestalten. Und was ich beruflich mache als Kinderarzt zum Wohle des Kindes ist das Sinnhafteste, was ich mir vorstellen kann. Dennoch gilt es, die Freizeit, die ich habe, für mich qualitativ hochwertig zu gestalten und dabei Kraft zu tanken.
Was bedeutet so ein intensives Engagement für das Privatleben?
Prof. Dr. Matthias Keller: Es bedeutet, Grenzen zu ziehen. Die Familie ist mein Fundament. Und hier ziehe ich klar Grenzen und die Zeit mit der Familie ist „heilig“. Leider erwischt mich aber meine Frau oft, dass ich mit den Gedanken woanders bin oder zu oft auf das Handy schaue. Aber sie und inzwischen die Kinder sind das beste Regulativ.
Was bedeutet Ihnen der Gewinn des 1A-Awards?
Prof. Dr. Matthias Keller: Ich sehe dies in erster Linie als Anerkennung und Wertschätzung für alle am Projekt beteiligten Menschen. Und dass wir gemeinsam einfach mal pragmatisch gehandelt haben. Es freut mich, dass dies gesehen wurde und anerkannt wird.
Medical-Tribune-Kooperation – 1 A Pharma