Kasuistik Warum gingen die Muskeln in die Knie?
Seit zwei Wochen litt der etwa 30-Jährige neben Muskelschmerzen unter anhaltender Erschöpfung, Erbrechen, Appetitmangel, gelegentlichen Schwindelanfällen sowie Atemnot bei Belastung. Eigen- und Familienanamnese waren leer, Medikamente nahm er nicht ein. Bei der körperlichen Untersuchung fanden die Ärzte der Notaufnahme bis auf einen leichten epigastrischen Druckschmerz keine pathologischen Befunde. Dafür zuckten sie bei den Laborwerten zusammen: Die nicht-kardiale Kreatinkinase (CK) war auf mehr als das 600-Fache erhöht (auf 121.200 U/l) bei leichter Niereninsuffizienz (Kreatinin: 2,04 mg/dl) und erhöhten Konzentrationen der Transaminasen, vor allem der AST. Eine derartig ausgeprägte Rhabdomyolyse geht meist auf Traumata mit ausgedehnter Zerstörung von Muskelgewebe zurück, dies war hier aber nicht der Fall, berichten Dr. Aleem Ali vom University of Florida College of Medicine in Jacksonville und seine Kollegen.
Auch die Infektiologie gab zunächst nicht viel her: Weder respiratorische Viren im Nasen-Rachen-Abstrich noch Hepatitisviren (A, B, C) im Serum noch einschlägige Erreger einer Myositis waren nachweisbar. Das Nativ-CT von Abdomen und Becken war bis auf leicht vergrößerte inguinale Lymphknoten unauffällig. Daraufhin wurde der Patient zur weiteren Diagnostik stationär aufgenommen.
Nach drei Tagen unter intravenöser Volumengabe nahmen Kreatinin- und CK-Konzentrationen ab, Erschöpfung und Appetitlosigkeit blieben aber bestehen. Auf genaueres Nachfragen gab der Kranke an, dass Letztere vor allem auf Schluckbeschwerden zurückging. Infektionsserologie und -kultur auf möglicherweise verantwortliche Keime waren negativ gewesen, ebenso der HIV-Test vor einem Monat. Dieser wurde nun wiederholt und zeigte eine massive HIV-Last (mehr als 10 Millionen RNA-Kopien/ml), CD4-positive Zellen waren deutlich vermindert. Daraufhin stellten die Mediziner die Verdachtsdiagnose „akute HIV-assoziierte Rhabdomyolyse“ und starteten eine antiretrovirale Therapie.
Bei der Kontrolluntersuchung vier Monate später war die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesunken, CK und Kreatinin hatten sich schon nach drei Wochen normalisiert. Der junge Mann konnte seine Arbeit ohne Einschränkungen wieder aufnehmen, die Herkunft des HIV blieb allerdings unklar.
Im Gegensatz zu früheren Annahmen ist also eine akute HIV-Infektion als alleinige Ursache einer Rhabdomyolyse möglich, schreiben die Kollegen. Dabei kommt es offensichtlich immunvermittelt zu einer Einwanderung von Entzündungszellen ins Muskelgewebe, die dieses dann zerstören. Ein HIV-Test sollte auf jeden Fall zur Diagnostik gehören, wenn man einer Rhabdomyolyse auf den Grund gehen will, folgern die Autoren. Die erhöhten Transaminasen sind dagegen bei früher HIV-Infektion nicht ungewöhnlich, sie treten bei gut jedem fünften Patienten auf. Im beschriebenen Fall können sie entweder auf die Infektion selbst oder die Freisetzung der AST aus den zugrunde gegangenen Muskelzellen zurückzuführen sein.
Quelle: Ali AA et al. BMJ Case Rep 2023; 16: e255621; DOI: 10.1136/bcr-2023-255621