Pathologischer Großwuchs Wie groß ist zu groß?

Autor: Dr. Anne Benckendorff

Beim Großwuchs kann es sich sowohl um eine Normvariante als auch um die Folge einer pathologischen Wachstumsstörung handeln. (Agenturfoto) Beim Großwuchs kann es sich sowohl um eine Normvariante als auch um die Folge einer pathologischen Wachstumsstörung handeln. (Agenturfoto) © iStock/Saeugra

Ist ein Kind überdurchschnittlich groß gewachsen, gilt es zu klären, ob eine Wachstumsstörung vorliegt. Eine Therapie des Großwuchses ist zwar prinzipiell möglich. Bei fehlendem Nachweis einer pathologischen Störung wird die Indikation allerdings äußerst zurückhaltend gestellt.

Großwuchs liegt definitionsgemäß dann vor, wenn die Körpergröße eines Kindes im Verhältnis zu einer Referenzpopulation gleichen Alters und Geschlechts oberhalb der 97. Perzentile liegt. Diese Feststellung einer Tatsache hat für sich genommen noch keinen Krankheitswert. Es kann sich sowohl um eine Normvariante als auch um die Folge einer pathologischen Wachstumsstörung handeln, schreibt Professor Dr. Helmuth-­Günther Dörr­ von der Kinder- und Jugendklinik am Universitätsklinikum Erlangen.

Die häufigste Normvariante ist der familiäre Großwuchs. Dabei liegt die Körpergröße mindestens eines Elternteils oberhalb der 97. Perzentile und das Wachstum des Kindes erfolgt entlang der Perzentile der genetischen Zielgröße. Als zweite Normvariante ist die konstitutionelle Entwicklungsbeschleunigung zu nennen. Dabei ist das Wachstums­tempo im Verhältnis zum chronologischen Alter erhöht, aber bezogen auf das Knochenalter normal. Nicht selten kommt es zu einer frühen Pubertäts­entwicklung. In beiden Konstellationen liegt die Endgröße im genetischen Zielbereich.

Disproportionierter vs. proportionierter Großwuchs

Davon abzugrenzen sind pathologische Wachstumsstörungen. Es kommen endokrine (z.B. Hyperthyreose, Pubertas praecox, wachstumshormonproduzierender Tumor) oder metabolische Ursachen infrage. Zudem kann der Großwuchs die Folge eines genetisch bedingten Syndroms sein. Ein proportionierter Großwuchs kommt etwa bei Kindern mit sogenannten Überwuchssyndromen (z.B. Beckwith-­Wiedemann-Syndrom, Sotos-Syndrom) vor; ein disproportionierter Großwuchs ist typisch für ein Marfan- oder ein Klinefelter-Syndrom.

Neue Kriterien für die Berechnung der Zielgröße

Grundlage der Diagnostik ist eine umfangreiche Anamnese inklusive Geburtsanamnese (Gestationsalter, Gewicht etc.), auxologischer Anamnese, psychomotorischer Entwicklung, Ernährung, vegetativer und Sozialanamnese. Unverzichtbar ist auch die Familienanamnese (Körpergröße und Pubertät der Eltern, Familienmitglieder mit auffälliger Körpergröße, Erkrankungen in der Familie).

Die Berechnung der Zielgröße nach Tanner sollte durch die neuere Berechnung nach Hermanussen und Cole ersetzt werden (Rechner unter pedz.de). Zudem werden die Armspannweite und die Sitzhöhe gemessen und zur Körpergröße in Beziehung gesetzt, um Hinweise auf mögliche proportionierte oder disproportionierte Wachstumsstörungen zu erhalten. Eine Röntgenaufnahme der linken Hand schließlich gibt Aufschluss über das Knochenalter. Für die Auswertung ist heute neben den herkömmlichen Atlanten auch eine Software verfügbar. Eine zuverlässige Vorhersage der Endgröße ist nicht vor einem Knochenalter von etwa zehn Jahren möglich.

Liegt ein Verdacht auf eine pathologische Störung als Ursache für den Großwuchs vor, sind – abhängig von der vermuteten Ursache – Laboruntersuchungen nötig, etwa die Bestimmung der Schilddrüsenwerte bei Verdacht auf eine Hyperthyreose, der Gonadotropine mit GnRH-Test, DHEAS und Serum-Estradiol bzw. Testosteron bei frühzeitiger Pubertät oder von Serum-IGF1 und -IGFBP-3 bei Verdacht auf ein wachstumshormonproduzierendes Adenom. Wird ein genetisches Syndrom vermutet, ist eine molekulargenetische Abklärung erforderlich.

Bei einer behandelbaren pathologischen Störung richtet sich die Therapie nach dieser Ursache. Insbesondere bei Normvarianten wird eine medikamentöse Hochwuchsreduktionstherapie heute dagegen zunehmend kritisch gesehen. Allgemein ist akzeptiert, dass ab einer Prognose von > 185 cm für Mädchen und > 205 cm für Jungen eine Behandlung erwogen werden kann.

Eine Therapie mit Sexualhormonen sollte mit der Pubertät beginnen und bis zum Verschluss der Epiphysenfugen fortgeführt werden. Damit ist eine Reduktion der Endgröße um rund 8 cm möglich. Wegen schwerer Nebenwirkungen, insbesondere bei Mädchen, wird sie heute allerdings nicht mehr empfohlen. Als Alternative ist die Epiphyseodese zu nennen, bei der die knienahen Wachstumsfugen chirurgisch irreversibel zerstört werden.

Quelle: Dörr HG. internistische praxis 2021; 64: 243-248