Hilfsprojekt Hilfsprojekt: Wie virtuelle Tumorboards die Versorgung krebskranker Kinder in Armenien verbessern
Eigentlich ist die Gesundheitsversorgung in Armenien gut. Das Problem: Es fehlt ein Versicherungssystem nach dem Solidarprinzip. Um das aufzubauen, bräuchte es eine gut funktionierende Wirtschaft. „Armenien ist ein kulturell sehr interessantes Land und die älteste christliche Nation“, erläutert Prof. em. Dr. Heribert Jürgens, ehemaliger Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Münster. „Allerdings gibt es dort weder Öl, noch Gas, noch Bodenschätze und das Land steht damit wirtschaftlich nicht gut da.“
Besonders krebskranke Kinder und deren Familien leiden unter der angespannten Situation. Rund 75 Kinder erhalten in Armenien jedes Jahr die Diagnose. Bis vor wenigen Jahren wurden sie im ganzen Land in verschiedenen Klinken behandelt – da die Kolleg:innen aber mit der onkologischen Behandlung der jungen Patient:innen kaum oder keine Erfahrung hatten, fiel die Prognose entsprechend schlecht aus. Im Jahr 2016 gipfelte das wackelige armenische Gesundheitssystem in einer neuen Problematik: Schlepperbanden lieferten kranke Armenier:innen nachts vor deutschen Kliniken ab, um sie so ins hiesige Gesundheitssystem einzuschleusen. Vor allem Familien mit krebskranken Kindern suchten Hilfe.
Vertrauen und Wissen vor Ort aufbauen
Besonders betroffen war auch das Universitätsklinikum Münster. „Das Bundesministerium für Gesundheit kam damals auf uns zu mit der Bitte, Vorschläge zu unterbreiten, wie wir das Problem in den Griff bekommen können“, so Prof. Jürgens. Im Fokus der Überlegungen: Es sollten vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen werden, um die Versorgung der armenischen Bevölkerung vor Ort zu verbessern. Gesagt, getan. Das Team in Münster um Prof. Dr. Eva Wardelmann, Direktorin des Gerhard-Domagk-Instituts für Pathologie, Prof. Dr. Jörg Haier, seinerzeit Geschäftsführender Direktor für Krebsmedizin, Universitätsklinikum Münster, und Prof. Jürgens als Kinderonkologe versuchten, sich im Auftrag des BMG ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.
SIOP-Asia 2023
Die Asia-Tagung der Société Internationale d’Oncologie Pédiatrique (SIOP) fand im Jahr 2023 erstmals in Jerewan statt – laut Prof. Jürgens ebenfalls ein Verdienst der guten Vernetzung zwischen deutschen und armenischen Kolleg:innen. Die SIOP, eine weltweite Organisation der Kinderonkologie, verfolgt das Ziel, Krebserkrankungen von Kindern heilbar zu machen.
Es folgten Seminare zu verschiedenen onkologischen Themen für die armenischen Kolleg:innen und Hospitationen der armenischen Ärzt:innen an deutschen Kliniken, unterstützt über Projekt- und Folgeanträge und deren Bewilligung zunächst vom BMG und nachfolgend von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). So fanden vor Ort in Jerewan an der dortigen Staatlichen Medizinischen Universität (Yerevan State Medical University – YSMU) regelmäßige Seminare mit Tumorexpert:innen aus Deutschland zu von den Onkologinnen und Onkologen in Armenien gewählten Themen statt.
Ein wichtiges Anliegen war die Zentralisation der Krebsmedizin im Lande. So werden z.B. in der Zwischenzeit alle tumorkranken Kinder in einem spezialisierten Zentrum behandelt, dem Pediatric Cancer and Blood Disorders Center in der Hauptstadt Jerewan.
Telemedizin als wichtige Säule der Versorgung
Ein zentraler Bestandteil des großen Projektes zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in der Onkologie und vor allem die der Kinder war die Telemedizin. Damit ist weniger die Kommunikation von Ärzt:innen mit ihren Patient:innen gemeint; vielmehr stehen wöchentliche virtuelle Tumorkonferenzen im Fokus, in denen sich die armenischen Kolleg:innen mit deutschen Expert:innen, vor allem in der pädiatrischen Onkologie und der Pathologie, regelmäßig austauschen können. Bisher wurden so allein in der Kinderonkologie in über 70 multidisziplinären Cancer-Teammeetings weit über 100 Kinder und ihre Krebserkrankungen diskutiert. Auch ist es möglich, im Falle von nicht eindeutigen Diagnosen histopathologische Referenzbeurteilungen des Tumorgewebes im Gerhard Domagk-Institut für Pathologie am Universitätsklinikum Münster vorzunehmen. So wurde in einer Reihe von Fällen im fachlichen Austausch die Diagnose korrigiert. „Das führte dazu, dass die Behandlung besser adaptiert werden konnte“, so Prof. Jürgens.
In Münster fokussierte man sich auf die Entität „Sarkome“, weitere deutsche Zentren unterstützen bei der Diagnose und Therapie von Lymphomen und Leukämien, ZNS-Tumoren und anderen soliden Krebserkrankungen. Die Ziele umfassen dabei
- die Translation und Adaptation von internationalen Leitlinien in der pädiatrischen Onkologie,
- die Identifikation von Barrieren, die eine gute Therapie in Armenien verhindern,
- die Organisation von Aktivitäten, die die Qualität der Versorgung verbessert sowie
- die Verbesserung der histopathologischen Diagnostik in Armenien durch Austausch und Weiterbildung.
„Die Zusammenarbeit mit den armenischen Kolleg:innen ist exzellent. Kooperation ist der Schlüssel zum Erfolg“, betont Prof. Jürgens. So ist vor allem auch das Vertrauen von Tumorpatient:innen in Armenien in die Kompetenz der Medizin vor Ort gewachsen. Für krebskranke Kinder konnte auch eine Vereinbarung mit den Gesundheitsbehörden vor Ort hinsichtlich der Übernahme von Behandlungskosten erreicht werden, um die finanzielle Belastung der betroffenen Familien zu mindern.
Erfahrungsaustausch auf mehreren Ebenen
Neben den gemeinsamen Tumorkonferenzen organisiert das Team seit 2018 regelmäßig Weiterbildungen in Armenien. Ziel der gegründeten Armenisch-Deutschen Krebsschule (Armenian-German Oncology School – ArGOS) ist die Übertragung moderner Therapierichtlinien in die Bedingungen des armenischen Gesundheitswesens. Dazu dienen auch Hospitationen, die jungen armenischen Onkolog:innen, Chirurg:innen und Patholog:innen die Möglichkeit geben, an deutschen Universitätskliniken ihre Behandlungskompetenzen zu verbessern und die Organisation der Krebsmedizin in Deutschland kennenzulernen. „Das hat dazu beigetragen, dass wir in Armenien die Verfügbarkeit der Onkolog:innen im Land in den letzten Jahren erhöhen konnten.“ fasst Anna Ghazaryan, Koordinatorin Internationale Beziehungen der YSMU, den Erfolg zusammen. Ermöglicht werden diese Transferprogramme durch eine Förderung des Programms Klinikpartnerschaften, das vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert wird.
Die Integration darf nicht abreißen
Durch die verschiedenen Teilprojekte entstanden zahlreiche Kontakte zwischen armenischen und deutschen Kolleg:innen. „Die Vernetzung führte letztendlich dazu, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten in der Kinderonkologie zwischen Deutschland und Armenien nicht mehr unterscheiden“, berichtet Prof. Jürgens. „Die Sinnhaftigkeit des Tuns hält die Leute an Bord.“
Wie lange die finanziellen Mittel noch ausreichen, weiß er nicht. Derzeit hoffen die Projektbeteiligten aber auf eine neue Förderung, die sich insbesondere auf die Einbeziehung der onkologischen Pflege in die Austauschprogramme richtet.