Digitale Diabetestherapie Zwischen Frustration und Begeisterung
Ärzte in Deutschland sind genervt von der Digitalisierung. Damit wird vor allem die Telematikinfrastruktur (TI) assoziiert. Umfragen der letzten Wochen zeigen aber, dass generell der Einsatz von Software und digital tools zunehmend kritisch gesehen wird. Die Akzeptanz nimmt eher ab. Wenn man dann noch in unserem aktuellen Editorial liest, dass Diabetologen weniger Diabetestechnologie einsetzen – zweifelst Du manchmal an Deinen Kollegen?
Dr. Jens Kröger: Der Digitalisierungsreport 2021 der DAK und der Ärztezeitung, für den 585 Ärzte und Psychotherapeuten befragt wurden, hat es aus meiner Sicht ganz gut und differenziert dargestellt. 93 % haben sich kritisch zur TI und ihren Anwendungen geäußert. Dabei wurden zu Recht Aspekte wie ein zu straffer Zeitplan, unausgereifte Technik und eine fehlende Praxisorientierung bemängelt.
Digitalisierung ist aber natürlich viel mehr, und da fühlen sich viele Ärzte nicht mitgenommen. Teilweise ist auch die Praxissoftware noch gar nicht so weit, etwa bei E-Rezept, E-Arztbrief und Chat-Anwendungen. Du darfst auch nicht vergessen, dass in den letzten zwei Jahren in den Praxen aufgrund von Corona viel zusätzlicher Druck und Arbeit entstanden sind. In dieser Situation zusätzliche Energie in neue digitale Strukturen zu stecken, um damit zufriedener und potenziell mit Zeitersparnis zu arbeiten, gelingt dann letztlich nur einer kleineren Gruppe.
In der Diabetologie sind wir aber im Vergleich zu vielen anderen ärztlichen Disziplinen weiter, da wir ohnehin schon seit Jahren z.B. mit Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) arbeiten und auch daran gewöhnt sind, Online-Auswertungen vorzunehmen. Die Skepsis aber z.B. in Bezug auf Videosprechstunden hat mich tatsächlich überrascht, zumal hier zu den Einschätzungen der Menschen mit Diabetes sowie Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes eine erhebliche Diskrepanz besteht (D.U.T-Report 2022).
Die Industrie nimmt auf Befindlichkeiten deutscher Ärzte wenig Rücksicht. Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Jetzt kommt die AID-Technologie auf die Diabetologen zu. Siehst Du das als Unterstützung oder eher als zusätzlichen Druck auf die Ärzte?
Dr. Kröger: AID-Technologie kann die Therapieergebnisse (HbA1c, Zeit im Zielbereich) bei vielen Menschen mit Typ-1-Diabetes verbessern, da sind sich alle einig. Sie kann aus Sicht der Menschen mit Diabetes und auch der Diabetologen auch die diabetesbezogenen Belastungen reduzieren (D.U.T-Report 2022). Die Begeisterung ist in der Kinder- und Jugenddiabetologie noch größer als in der Erwachsenendiabetologie. Immerhin haben in vielen Zentren über 90 % der Kinder und Jugendlichen eine Insulinpumpe/CGM-System. Das Problem ist hier eher, dass viele AID-Systeme noch keine Zulassung für Kinder unter sechs Jahren haben. Die Unterstützung für die Menschen mit Diabetes kann groß sein – der Aufwand, Menschen mit AID-Systemen zu betreuen, ist aber ebenfalls groß. Dieser zeitliche Aufwand in der Praxis bzw. Klinik wird bisher nicht ausreichend berücksichtigt, dies muss sich ändern. Es kann ja nicht sein, dass die Behandlung von Menschen z.B. mit einer oralen Therapie genauso honoriert wird wie die von Menschen mit einer AID-Therapie.
Auch zusätzliche unterstützende Möglichkeiten wie Videosprechstunden und Videoschulung werden nicht ausreichend in der Versorgung bewertet. In der Coronapandemie gab es keine Grenzen für Videosprechstunden, doch in einigen Bundesländern wurde dies schon wieder aufgehoben, sodass aktive Zentren in dieser Hinsicht nicht mehr das machen können, was sinnvoll wäre und sich bei ihnen bewährt hat.
Ärgerlich ist daneben auch die fehlende Interoperabilität der Systeme. Wie wichtig ist sie – und warum wollen sich viele, viel zu viele Firmen nicht umstellen?
Dr. Kröger: Das ist sehr hinderlich und ärgerlich. Einige Firmen benutzen ihre Systeme und Plattformen, um quasi als „Closed Shop“ zu agieren. Sie benutzen sie als Marketinginstrumente. Hätte die FDA nicht dafür gesorgt, dass bei den AID-Systemen eine Interoperabilität ermöglicht wird, hätten wir vielleicht nur einzelne Marktführer, die die Szenerie beherrschen. Deswegen muss an dieser Stelle mehr Druck auf Firmen aufgebaut werden, die sich der Interoperabilität verweigern. Die Daten gehören den Menschen mit Diabetes, und nicht den Firmen. Die Menschen müssen entscheiden können, wo und wie sie ihre Daten zur Verfügung stellen. Das können sie heute meistens nicht, wenn sie die unterschiedlichen Systeme verwenden wollen. Die Menschen beklagen dies zwar häufig, haben aber keine andere Wahl, wenn sie die Systeme nutzen möchten, deshalb fügen sie sich. Ich hoffe, dies wird sich spätestens mit der elektronischen Diabetesakte (eDA) ändern.
Zurück zu den Ängsten vieler Ärzte vor der Digitalisierung. Was schlägst Du vor? Was hältst Du von finanzieller Unterstützung für niedergelassene Ärzte, einem Praxiszukunftsgesetz, ähnlich wie das Krankenhauszukunftsgesetz, das über vier Milliarden Euro an die Krankenhäuser ausschüttet?
Dr. Kröger: Ich fände dies sinnvoll, wenn klar definiert ist, wofür das Geld ausgegeben wird. Es müsste also einen Anforderungskatalog geben. Dann können die digital interessierten Ärzte dieses Geld nutzen, um ihre digitalen Strukturen zu ändern, zu verbessern, auszubauen. Es sind nicht nur die Ängste vor der Digitalisierung. Es fehlt schlichtweg in vielen Praxen die Zeit oder auch Lust, sich um diese Themen zu kümmern. Ich kann mir gut vorstellen, dass dann durch Delegation dieser Themen in Praxisstrukturen eine Verbesserung erzielt werden kann.
Welche Rolle spielen die Patienten? Auch hier ist doch Zweifel an der digitalen Aufgeschlossenheit angebracht, wenn man sieht, dass die Praxen und Wartezimmer voll sind – auch bei denjenigen Deiner Kollegen, die ausschließlich mit Papier und Fax unterwegs sind …
Dr. Kröger: Die Praxen und Wartezimmer der meisten Ärzte sind voll, Wartezeiten bei Haus- und Fachärzten sind teilweise bei Akutproblemen vorhanden. Ich habe kürzlich live erlebt, wie Patienten mit akutem Husten oder anderen pulmonalen Akutproblemen bei einem Facharzt einen Termin im September angeboten bekommen haben. Das Thema wurde an der Anmeldung abgearbeitet, da stimmte die Versorgungsstruktur hinten und vorne nicht.
Man muss also unterscheiden: Wo brauche ich vor Ort, persönlich einen Termin und wo kann ich z.B. mithilfe von Videosprechstunden mein Problem klären. Das hat aber nichts mit digitaler Aufgeschlossenheit zu tun, sondern damit, dass diese Angebote zu wenig vorhanden sind. Viele Menschen mit Diabetes – und hier nicht nur die Menschen mit Typ-1-Diabetes – wünschen sich digitale Angebote, und das sind nicht nur die jungen Technikaffinen.
Kurz zusammengefasst: Was muss passieren, damit sich digitale Strukturen im Versorgungsprozess verbessern?
- Die Rahmenbedingungen (digitale Infrastruktur) müssen schneller ausgebaut und verbessert werden.
- Der Aufwand hinsichtlich der Digitalisierung ist zu honorieren. Bis heute werden Schulungsprogramme wie Spectrum und Flash von den Kassen boykottiert und nicht im Rahmen der GKV-Abrechnung ermöglicht. Wie soll das bei AID-Systemen weitergehen? Firmen propagieren teilweise, dass technische Einweisungen in ihre Systeme ausreichend sind, um sie zu beherrschen. Das ist falsch, jeder Mensch mit Diabetes, der diese Systeme verwendet, benötigt individuelle Beratungen und Schulungen, damit die Systeme bestmöglich laufen.
- Technologische Unterstützung (CGM, AID-Systeme, Smartpens) in der Therapie erfordert zusätzliche zeitliche Ressourcen. Dies wird nicht abgebildet, muss aber dem Aufwand entsprechend honoriert werden.
- Möglichkeiten wie Videosprechstunden und -schulungen sollten, auch nach der Pandemie, in höherem Maße dauerhaft und in größerem Umfang je nach Bedarf ermöglicht werden. Wenn man mit diesen Methoden erfolgreich arbeitet, kann man doch als Behandler nicht wie jetzt begrenzt werden.