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Ein Weckruf für die Wende Bündnis Vision Zero und der G-BA-Vorsitzende verdeutlichen die Herausforderungen

Der Verein Vision Zero unterstützt als interdisziplinärer Thinktank die „Nationale Dekade gegen Krebs“. Diese strebt danach, dass zünftig möglichst niemand mehr an Krebs stirbt. Inzwischen sei aus der Idee eine kleine Bewegung mit einem positiven Grundsound geworden, so Daniel Bahr, Mitglied im Vorstand von Vision Zero, beim Jahresempfang der Initiative.
Der ehemalige Bundesgesundheitsminister verwies auf die aktuelle Veröffentlichung von Vision Zero „Wake-up Call – Gemeinsam gegen Krebs“. Im Fokus stehen die Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Wirtschaftsstandort Deutschland. Das Land sei berühmt gewesen in Bereichen wie Medizintechnik, Pharmaindustrie, Versorgungsstudienlage, so Bahr. Jetzt seien Ideen gefragt, wie Deutschland dieses Niveau wieder erreichen könne.
Es geht für Vision Zero auch um die Nutzung von Real-World-Daten und mehr Prävention. Auf 70 Seiten haben die Akteure Handlungsempfehlungen zu Bundes- und Landesgesetzgebung, Datenschutzbehörden sowie zur Vernetzung im Forschungsbereich formuliert. „Das würde ich zum Regierungsprogramm machen“, sagte Bahr und ermunterte anwesende Bundestagsabgeordnete mit einem Augenzwinkern, das Buch mitzunehmen, die Vorschläge in den Bundestag einzubringen und zu beschließen. Auf die Frage, ob er den Posten des Bundesgesundheitsministers, den er von 2011 bis 2013 innehatte, nochmals übernehmen würde, stellte der einstige FDP-Bundestagsabgeordnete und heutige Allianz-Vorstand allerdings klar: „Ich bin da raus.“
Gelassen gab sich hinsichtlich eines möglichen Führungswechsels im Bundesgesundheitsministerium der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Prof. Josef Hecken: „Ich erlebe derzeit meinen fünften Bundesminister, den sechsten werde ich auch überleben.“ Unter dem jetzigen Minister sei die Zahl der Freunde des G-BA gewachsen.
Mit Beispielen aus seiner Arbeit und reichlich Lob für die Selbstverwaltung verwies Prof. Hecken auf gesundheitspolitische Herausforderungen. „Der typische Deutsche würde sagen, das Ende der Fahnenstange ist erreicht“, doch man dürfe nicht nur auf die Ausgabenseite schauen.
Deutschland gab im vergangenen Jahr 494,6 Mrd. für Gesundheit aus, 30 Mrd. mehr als der gesamte Bundeshaushalt umfasste, erläuterte der G-BA-Vorsitzende. 57 % davon entfielen auf die GKV, der Rest auf PKV, Zuzahlungen, freie Heilfürsorge, Pflegeversicherung. In diesem Jahr werden der GKV 341 Mrd. Euro zur Verfügung stehen. Rund 100 Mrd. davon fließen in die Krankenhäuser. Etwa 57 Mrd. kostet voraussichtlich die Arzneimittelversorgung, 5 Mrd. Euro mehr als die vertragsärztliche Versorgung. Das bedeute, dass die 180.000 Vertragsärzte insgesamt weniger Mittel von der GKV erhalten, als die Arzneimittel kosten, so Prof. Hecken.
Große Vorteile durch schnelle Verfügbarkeit von Innovation
1,2 % der Arzneimittelverordnungen entfallen auf den Bereich der Onkologie (21 Mrd. Euro), 0,07 % auf Orphans. 1,27 % der Rezepte sorgen somit für ein Drittel der Arzneimittelausgaben. Und die Kosten steigen weiter, insbesondere in der Onkologie und bei den Orphans, sagt der G-BA-Chef. Er verwies zugleich darauf, dass in Deutschland fast 100 % der neuen Wirkstoffe 30 Tage nach der Zulassung für Patienten verfügbar sind, während in anderen EU-Staaten nur 30 % – und das nach zweieinhalb Jahren – in die Versorgung kommen.
So seien CAR-T-Zellen sehr schnell in der Versorgung gewesen, während es in Frankreich über 500 Tage gedauert habe. Nicht nur beim medianen Überleben von sechs oder acht Wochen mache das einen Unterschied, man könne auch einen Großteil der Krebspatientinnen und -patienten in die komplette Remission bringen – etwas, das man sich vorher gar nicht habe vorstellen können.
Diagnostik und Ersttherapie gehören in ein Krebszentrum
Prof. Hecken sieht in der schnellen Verfügbarkeit neuer Wirkstoffe auch Kapital im Sinne von gesundheitlichem, medizinischem und wissenschaftlichem Output. Man müsse dafür jedoch indikationsspezifische Register aufbauen und systematisch die Daten generieren, die Zulassungsbehörden, Wissenschaft und Patientinnen und Patienten bräuchten. Dann lasse sich „wirklich nach zwei, drei Jahren sehen, ob und bei wie vielen die Therapie anspricht“. Davon hätten dann alle etwas: Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte, Wissenschaft, Forschung sowie der Pharmastandort Deutschland.
„Dann wären wir in einer Situation, wo wir auch als Deutsche noch mal sagen können, ja, Glückwunsch, wir fahren auch mal nach Amerika und können auf dem Kongress ein Poster an die Wand hängen, statt hinten in Reihe 24 zu sitzen und anzuhören, was andere Leute über Verbesserung der Versorgung erzählen.“
Der Masterplan
Vision Zero legt mit dem „Wake-up Call“ einen Masterplan für die Gesundheitswirtschaft vor (vision-zero-oncology.de). Das Gesundheitssystem soll nachhaltiger, digitaler und resilienter werden, um globale Herausforderungen meistern zu können. Für eine bessere Versorgung krebskranker Menschen wird als notwendig angesehen:
- Gesundheitswirtschaft stärken
- innovationsfreundliche Markt- und Rahmenbedingungen
- digitale Transformation vorantreiben
- Potenziale der Prävention realisieren
- Zugang zu Gesundheitsdaten für Forschung und Entwicklung optimieren
- Forschung durch schnelle Translation, mehr wissenschaftlichen Nachwuchs und Kooperation fördern
Das Ganze müsse durch eine Versorgung in hoch spezialisierten Einrichtungen flankiert werden, betonte der unparteiische G-BA-Vorsitzende. „Wir brauchen sowohl die Diagnostik wie auch die erstmedikamentöse Therapie an Zentren, wie wir es bei CAR-T-Zentren gemacht haben. Denn was nützt es, wenn jemand an den Nebenwirkungen stirbt, obwohl er möglicherweise auf den Wirkstoff hätte ansprechen können?“ Auch invasive Eingriffe sollten nicht flächendeckend gemacht werden dürfen.
Von 900 Krankenhäusern, die Brust-OPs vornehmen, hätten über 300 weniger als zehn Interventionen pro Jahr, so der G-BA-Vorsitzende. „Wie wollen die in der komplexen Situation eine Nullresektion hinkriegen? Die mussten ,Ferdinand Sauerbruch, der junge Chirurg‘ aus dem Regal holen, bevor sie operiert haben.“ Seit diesem Jahr gilt laut G-BA-Beschluss eine Mindestmenge von 100 bei der chirurgischen Behandlung von Brustkrebs.
Für geplante Krebsoperationen am Dickdarm soll mit Übergangsfristen eine Mindestmenge von 30, für Krebsoperationen am Enddarm (Rektumkarzinomchirurgie) eine Mindestmenge von 20 pro Jahr und Standort gelten. Laut Prof. Hecken operieren zurzeit 931 Kliniken Rektumkarzinome. Durch die Mindestmenge wird die Hälfte dieser Einrichtungen die Leistung in Zukunft nicht mehr erbringen können. Prof. Hecken will konsequent an Mindestmengen festhalten.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht