Immer weniger Zeit für Patienten Dafür sind Ärzte nicht angetreten

Gesundheitspolitik , Kolumnen Autor: Raimund Schmid

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Empfinden Sie das auch so? Die Mediziner und insbesondere die an der Basis Tätigen wie die Allgemeinärzte oder die Kinder- und Jugendärzte werden zunehmend ihrer Identität beraubt. Behauptet jedenfalls der Freiburger Medizinethiker Prof. Giovanni Maio. Denn gerade die Primärärzte müssen heute in immer kürzerer Zeit immer mehr Patienten durchschleusen und werden zunehmend normiert und überreguliert.

Mit diesen provokanten Thesen steht Maio aber längst nicht mehr alleine da. Beim jüngsten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) hieß es, dass der ökonomische Druck auf die Leistungserbringer so immens sei, dass sogar bereits Qualitätseinbußen hingenommen werden müssten. Für DGU-Präsident Prof. Kurt Miller ist es daher längst überfällig, die Personalschlüssel völlig neu auszurichten.

Wir brauchen Kümmerer

Diese Forderung erhob auch Dr. Eckardt von Hirschhausen bei der 50. Jubiläumstagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Er forderte in Frankfurt dazu auf, in der Medizin wieder stärker aus Sicht des Patienten zu denken. Dazu gehörten aber längst nicht nur High-Tech-Medizin und Verordnungen ohne Ende und ohne Nachhaltigkeit, die heute den Medizinalltag bestimmen, sondern das "echte Kümmern" um den Patienten.

Das sei heute nicht mehr möglich und führt zu einem "verhängnisvollen Dilemma", warnte Giovanni Maio zuletzt bei der 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Das "Geschäftsmodell Gesundheit" stelle den eigentlichen Kern der Medizin immer mehr zur Disposition. So sei der Kontakt zu den Patienten die "zentrale medizinische Investition". Falls dafür aber zu viel Zeit investiert werde, sinke der Produktionsaufwand in einer industrialisierten Medizin. Die Zeit, so Maio, wird dann als "Verschwendung" angesehen. Der ganzheitliche Blick für den Patienten, der auch soziale Elemente beinhalten müsse, gehe so verloren.

Das lineare Handeln und die strenge Regelbefolgung führen zudem dazu, dass die Patienten in Schemata gepresst und normiert würden. Das ergebe aber eine "Sinnesleere und eine Demotivierung, weil die Heilberufe für einen solchen Umgang mit den Patienten nicht angetreten sind". Denn die Medizin zeichne sich gerade durch die "nicht vollkommene Planbarkeit ihres Tuns" aus. Die "situative Kreativität", die aus dem Zuhören und der Neugierde erwachse, bleibe so auf der Strecke.

Patienten wertschätzen

Schließlich prangert Maio auch die überbordende Überformalisierung an, mit der die Heilberufe geradezu "umerzogen" werden sollen: "Alles, was dokumentiert werden kann, zieht die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, der Rest wird als unwissenschaftlich abqualifiziert." Maios Schlussfolgerung daraus kann man nur uneingeschränkt teilen. In den Fokus müssten wieder verstärkt die "tiefe Wertschätzung" für den Patienten und die "individuelle Beziehungsqualität" gerückt werden, ohne permanent in Zeitdruck zu geraten. Oder um es mit den Worten Eckardts von Hirschhausen ganz lapidar auszudrücken: Für eine individuelle und patientenorientierte personalisierte Medizin brauchen wir Personal! Und das sollte zudem auch endlich leistungsgerecht bezahlt werden, meint

Ihr

Raimund Schmid

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (18) Seite 34
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

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