Kommentar Dann hat keiner mehr Verantwortung

Aus der Redaktion Autor: Anouschka Wasner

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Die Digital Afterlife Industry gilt als Wachstumsmarkt. Ihr Produkt: Die simulierte Interaktion mit Verstorbenen über Chatbots oder Avatare.

Einmal soll ein Avatar einem Angehörigen die Klimakatastrophe so eindringlich nahegebracht haben, dass dieser Selbstmord beging. Möglicherweise hat der Entwickler die KI nicht gut gebrieft. Oder er hat sie mit Informationen gebrieft, die man dem Trauernden nicht hätte zumuten dürfen. Und vielleicht hat sich der Avatar im Laufe „seines Lebens“ auch selbst weiterentwickelt.

Wer hat die Verantwortung für diesen tragischen Tod? Der Entwickler? Der Trauernde, der den Avatar hat bauen lassen? Oder irgendwie der verstorbene Mensch? Aber ist Goethe verantwortlich für die Selbstmorde junger Leute, die das Leiden des jungen Werthers gelesen hatten? So der Einwurf aus dem Publikum des Wiesbadener Hospiztages. Doch der Vergleich funktioniert nicht: Die Suggestionskraft eines bewegten dreidimensionalen Bildes, wie die KI es erschaffen kann, ist eine andere als die eines gedruckten Buches.

Hier liegt des Pudels Kern: Die Simulationen dringen tiefer in die Gefühlswelt ein, als alles andere, was wir kennen. Deswegen konnte die Mutter, die am Abend vor dem Tod ihrer Tochter mit dieser gestritten hatte, ihre Albträume mithilfe eines Avatars endlich überwinden. Und deswegen hat der junge Mann in Kanada sein Leben nach dem Tod seiner großen Liebe quasi vollständig zu ihrem Avatar in den digitalen Raum verlegt. Was ihm half, seine Einsamkeit auszuhalten, führte ihn aber letztlich in totale Einsamkeit. Selbst schuld?

Wer mit dem Tod konfrontiert ist, dem eigenen oder dem einer geliebten Person, befindet sich in einer Ausnahmesituation. Menschen in dieser Lage darf man nicht allein lassen mit der Versuchung, dem gefühlt Unerträglichen auszuweichen. Der Verweis auf eine eigene ethische Verantwortung klingt da fast zynisch. Wer mit Sterbenden und Trauernden zu tun hat, wird sich der Reflektion hierzu nicht entziehen können. Nicht im individuellen Gespräch, und auch nicht in der gesellschaftlichen Diskussion zu den Rahmenbedingungen. Denn ohne diese werden uns die neuen Möglichkeiten einfach überrollen.

Quelle: Kommentar