Hausärzte im Dilemma Das Leid mit den Leitlinien

Kolumnen Autor: Raimund Schnmid

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Schon seit Jahren wird der Wert und der Nutzen medizinisch-wissenschaftlicher Leitlinien insbesondere für Hausärzte hinterfragt. Der geballte Kummer, den Leitlinien Ärzten bereiten, wurde jüngst beim Deutschen Jugendmedizinkongress in Weimar erneut deutlich.

Schon der Titel "Leit(d)linien" war bezeichnend. Viele dieser Orientierungshilfen sind zu wissenschaftlich ausgerichtet und berücksichtigen zu wenig die Bedarfe und auch das Alltagswissen der niedergelassenen Ärzte, hieß es in Weimar. Medizinische Leitlinien würden zudem zu stark vom organischen und rein schulmedizinischen Medizinverständnis beherrscht und enthalten zu wenig psychologische Faktoren sowie Umfeldbedingungen, die gerade für die hausärztliche Praxis eine große Rolle spielen. So fehlen bei der derzeit aktuellen Version der Nationalen Versorgungsleitlinie Asthma psychologische und emotionale Faktoren, obwohl diese seit 15 Jahren als versorgungsrelevant angesehen werden.

Lücken bei alten und jungen Patienten

Als problematisch sehen es auch viele Hausärzte an, dass Leitlinien häufig nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens entsprechen. Der hohe Anspruch, diese alle 5 Jahre zu aktualisieren, kann zumeist nicht erfüllt werden. So sind manche Leitlinien bereits 10 Jahre lang nicht mehr vollständig aktualisiert und allenfalls durch Stellungnahmen ergänzt worden. Ebenso stößt der Umfang von Leitlinien mit häufig über 200 Seiten bei vielen Niedergelassenen auf Ablehnung, auch wenn es mitunter ausreicht, sich die Empfehlungen am Schluss anzuschauen. Doch das nutzt dann bei den Patienten, die grundsätzlich therapieresistent sind, auch nicht viel. Vor allem aber finden die besonderen Behandlungsbedarfe speziell von jungen und von alten Menschen kaum Eingang in die Leitlinien. So reichen Angaben vieler Leitlinien in der Praxis häufig nicht aus, einer Adipositas im Kindes- und Jugendalter tatsächlich erfolgreich begegnen zu können. Um eine dauerhafte Änderung des Essverhaltens bei jungen Menschen zu erreichen, müsse ein Arzt auch etwas über die auslösenden und erhaltenen Faktoren eines übersteigerten Essverhaltens wissen. Dieses Wissen allerdings erwirbt man nicht durch das Durcharbeiten einer Leitlinie. Doch Leitlinien über Erkrankungen, die Heranwachsende betreffen, stehen wenigstens zur Verfügung, auch wenn dort seltsamerweise nirgendwo der Begriff Adoleszenz auftaucht. Die spezifischen Bedürfnisse alter und geriatrischer Patienten werden dagegen nicht einmal in Leitlinien erfasst, sieht man einmal von wenigen Ausnahmen wie etwa der Leitlinie Multimedikation oder der "Handlungsempfehlung Medikamentenmonitoring" bei Multimorbidität ab.

Leitlinien von und für Niedergelassene

Die hausärztliche Leitlinie Multimedikation wurde ja sogar mit dem Zukunftspreis des Verbands der Ersatzkassen (vdek) ausgezeichnet. Zu Recht. Doch es fehlen weitere entsprechende interdisziplinäre Leitlinien, etwa für ältere Menschen, die an mehreren chronischen Erkrankungen leiden. Und es wird allerhöchste Zeit, dass künftig deutlich mehr niedergelassene Ärzte an Leitlinien-Erstellungen beteiligt werden. Den (älteren) Patienten käme all das sehr zugute, weil dann immer mehr echte Praxis-Leitlinien statt rein theoriebasierter Leit(d)linien zur Verfügung stünden,


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Raimund Schmid

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (8) Seite 30
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.