Medizinethik Dem Patienten als Person begegnen

Kolumnen Autor: G. Rüter

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Seit der griechischen Antike beinhaltet wissenschaftliches Denken die Entwicklung von Modellen. In Modellen wird die Komplexität der wahrgenommenen Wirklichkeit auf wenige Kernaussagen, Gesetze, reduziert. Sie ermöglichen, wenn das Modell stimmt, Vorhersagen über künftige Wirklichkeiten. In diesen reduktionistischen Modellen sind oft nur wenige Variablen zulässig, was zu linearen Kausalitätszusammenhängen (ver)führt: Die Komplexität der Wirklichkeit geht im Modell verloren, was die Gefahr beinhaltet, das Modell für die Wirklichkeit zu halten. Modelle werden erweitert, korrigiert oder verworfen, wenn sie mit der beobachteten Wirklichkeit nicht übereinstimmen (Falsifizierung) oder keine Erklärung für die Wirklichkeit liefern können.

In der Medizin führte die systematische Beobachtung von Krankheitssymptomen und -zeichen zur Entwicklung von Krankheitsmodellen. Die systematische (natur-)wissenschaftliche, aber damit auch reduktionistische Untersuchung von Lebewesen zeigte in den letzten Jahrhunderten nicht für möglich gehaltene medizinische Erfolge, ablesbar an einer immer weiter steigenden mittleren Lebenserwartung neugeborener Menschen.

Mit den ausgeweiteten Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Medizin wurden die Machbarkeitsgrenzen so weit hinausgeschoben, dass tätige Ärzte sich wieder mehr mit ethischen Fragen beschäftigen müssen. Weit intensiver als früher kann und soll der Arzt in das existenzielle Dasein seiner Patienten eingreifen. Die dafür notwendig werdenden Modelle, Regeln und Gesetzmäßigkeiten müssen im Feld der Philosophie und der Geisteswissenschaft entwickelt und gesucht werden.

Der kranke Mensch bleibt ein komplexes Lebewesen und die pure Behandlung seiner Krankheiten wird dem Kranken als Person nicht hinreichend gerecht. Eine Medizin am Lebensende und am Lebensanfang etwa, ärztlicher Umgang mit der Transplantationsmedizin, den Gesunden "verbessernde" Operationen oder Medikationen, Reflexionen von Grenzen der Machbarkeit sind nicht denkbar, ohne dass Ärzte sich dafür einen „Kompass“ erwerben. Auch hier gilt, dass die Komplexität der Lebensphänomene sich in den Regeln von Modellen abbilden muss.

Dem Patienten als Person zu begegnen, verlangt hohe Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Respekt und Zuneigung vom Arzt. Darüber hinaus bedarf es der systematischen Selbsterfahrung des Arztes, damit er mit der eigenen emotionalen Ergriffenheit, wie sie etwa der Neo-Phänomenologe Hermann Schmitz beschreibt, oder wie sie in den Freud’schen Begriffen der Übertragung und Gegenübertragung zum Ausdruck kommt, umzugehen weiß. Auch dabei handelt es sich wieder um Modelle, die dem Arzt zur Orientierung dienen.

Das wissenschaftliche Leben und tätiges Arztsein mäandert zwischen erfahrener Wirklichkeit und abstrahierenden Modellen. Für das Modell westlich-wissenschaftlicher Medizin sind die Bildungsmöglichkeiten allgemein geläufig, für das Modell einer personenzentrierten Medizin eignen sich Balintgruppen und phänomenologische Philosophie.


Autor
Facharzt für Allgemeinmedizin, Chirotherapie, Palliativmedizin
71726 Benningen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (18) Seite 3
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.