Waisenkinder der Medizin Die „Seltenen“ sind gar nicht so selten

Kolumnen Autor: R. Schmid

Sie gelten als die Waisenkinder in der Medizin, und dennoch betreuen mitunter auch Allgemeinärzte nicht wenige Patienten, bei denen eine Seltene Erkrankung vorliegt. Verwunderlich ist dies nicht, leben doch allein in Deutschland rund 4 Millionen Menschen (EU-weit rund 30 Millionen), die von einer der über 7 000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen betroffen sind. In der Gesamtheit kommen die "Seltenen" also durchaus häufig vor.

Enorme Vielfalt an Erkrankungen

Angesichts dieser Vielfalt an Erkrankungen können nicht einmal die Spezialisten alle seltenen Syndrome – selbst aus ihrem Fachgebiet – im Blick haben. Für die Allgemeinärzte mit ihrem unausgelesenen Krankengut trifft dies natürlich umso mehr zu. Viele Patienten haben daher eine jahrelange Odyssee hinter sich, bis sie endlich qualifiziert betreut und behandelt werden können. Allein die Suche nach einer Diagnose dauert im Schnitt 7 Jahre!Bisher standen die Hausärzte dabei aber vor einem riesigen Dilemma: Für die Diagnostik und Therapie gab es kaum spezialisierte Einrichtungen. Medikamente wurden kaum erforscht oder off label eingesetzt. Und politisch herrschte eher die Devise vor, erst einmal abzuwarten, bevor man hier ein neues Fass mit unabsehbaren Kostenwellen aufmacht. Doch in jüngster Zeit hat sich hierzulande eine Menge getan. Nur einige wenige Fakten, die auch für Allgemeinärzte von Bedeutung sind, belegen dies:Mittlerweile haben sich über ein Dutzend Forschungsnetzwerke für Seltene Erkrankungen etabliert (Überblick: www.research4rare.de). Interessant sind auch die Forschungsergebnisse zum Projekt EIVE (Entwicklung innovativer Versorgungskonzepte am Beispiel Seltener Erkrankungen, www.gemeinsamselten.de/aboutus.php. So hat die Bundesregierung nach einem Kraftakt unter Beteiligung vieler Mitwirkender (auch des Deutschen Hausärzteverbandes) 2013 den Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) verabschiedet und mittlerweile in Gang gebracht (www.namse.de). Und jedes Jahr wird am letzten Tag im Februar der „Tag der Seltenen“ begangen.Durch vermehrte Anreize für die Industrie konnten mittlerweile über 120 Arzneien speziell für Seltene Erkrankungen zugelassen werden. Bis zum Jahr 2020 sollen es 200 sein. Der Selbsthilfe kommt bei den Seltenen eine zunehmende Bedeutung zu, weil gut informierte Betroffene häufig auch medizinisch einen Wissensvorsprung im Vergleich zu Ärzten haben.Inzwischen gibt es 23 Zentren für Seltene Erkrankungen (Übersicht unter www.research4rare.de/zentren-fuer-seltene-erkrankungen/) und bieten dem Hausarzt die Chance, mit einem Zentrum die Betreuung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen gemeinsam zu übernehmen.

Ohne Hausärzte geht es nicht

Diese koordinierte Behandlung zwischen Erstversorger und Spezialist in einem Zentrum muss sich aber erst noch einpendeln, um die Verantwortlichkeiten aufzuteilen und Doppelaktivitäten zu vermeiden. Denn eines ist trotz aller Fortschritte klar: Ohne den Allgemeinarzt als Primärversorger ist auch bei den Seltenen keine nachhaltige Therapie und dauerhafte Betreuung möglich, meint Ihr

Raimund Schmid

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (4) Seite 24
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.