Schweiz Endlich wieder Hausarzt sein!

Kolumnen Autor: U. Brühl

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Wer von uns Hausärzten kennt das nicht: Es ist schon sehr spät am Abend, die letzten Patienten haben die Praxis verlassen und es herrscht endlich etwas Ruhe von der Alltagshektik. Jetzt können wir uns noch mit Beschwerden über Medikamentenaustausch in der Apotheke, Forderung nach Heilmittelrezepten beschäftigen. Endlose Listen wären zu bearbeiten, Chroniker-Ziffern, Geriatrisches Basis-Assessment, wer hier nicht konsequent überprüft, verliert viel Geld. Und da wartet auch noch ein Stapel Papier: Versorgungsamtanfragen, REHA- und Rentenanträge, Widerspruchsschreiben, weil die Pflegekasse wieder einmal ungerechtfertigt die Inkontinenzartikelversorgung abgelehnt hat. Die Kostenerstattung dafür bewegt sich zwischen 2,98 und 8,23 Euro, da kann die Beantwortung schon mal warten. Denn: Meine Familie wartet auch auf mich!

Ich bin 57 Jahre alt, frustriert vom Kassenarztdasein und wage einen Neustart in der Schweiz. Unterstützt von meiner unermüdlich innovativen Ehefrau und bestärkt durch meine volljährigen Kinder übernehme ich eine Hausarztpraxis im Engelberger Tal.

Den Tag beginne ich mit ein paar INR-Kontrollen, mit jedem Patienten wird das Ergebnis in Ruhe besprochen; in der Schweiz wird nach Zeiteinheiten bezahlt. „Du hast jetzt einen Check-Up“, ruft meine Mitarbeiterin, „du hast eine Stunde Zeit!“ Wann bitte hatte ich das das letzte Mal? Nach dem Check ein Arbeitsunfall, Quetschung von drei Fingern, das Röntgenbild haben die Praxisassistentinnen schon gemacht, auf zur Wundversorgung! Hier traut man dem Hausarzt noch die Versorgung von Arbeitsunfällen zu, der chirurgische Teil meines Hausarztherzens hüpft vor Freude. Verband machen die „Mädchen“, wie das hier so heißt, ich gehe in meine Hausarztapotheke und hole das Antibiotikum.

Keine Rezepte ausstellen zu müssen, keine Diskussionen über Medikamentensubstitution, einfach ein Traum! Kaum mehr Papierkram. Am Ende des Tages habe ich 10 Stunden verrechnete Arbeitszeit investiert (jede angefangenen 5 Minuten werden bezahlt) und fühle mich erstmals in meinem Hausarztleben meiner Ausbildung und meiner Berufserfahrung entsprechend gerecht entlohnt.

Vor 23 Jahren hatte ich voller Enthusiasmus als Hausarzt in Deutschland begonnen und bin im Laufe der Jahre zum Schreibtischarzt degradiert worden. Ich danke allen meinen Patientinnen und Patienten für die schöne Zeit in Deutschland. Ich danke den Schweizern, dass sie mich so offen und herzlich aufgenommen und mir meinen Beruf und meine Berufung als Hausarzt wiedergegeben haben!


Autor
Facharzt für Allgemeinmedizin (D)
CH-6386 Wolfenschiessen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (19) Seite 3
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.