Arzneimittel Ethikrat interessiert sich für die Preisbildung

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Für neue Medikamente verlangen die Her­steller zum Teil gewaltige Summen – zu recht? Für neue Medikamente verlangen die Her­steller zum Teil gewaltige Summen – zu recht? © F16-ISO100 – stock.adobe.com

Ein lebenslang notwendiges Medikament, das pro Patient im Jahr 250.000 Euro kostet, oder Ausgaben von über 2 Mio. Euro für ein einmalig anzuwendendes Gentherapeutikum – wie können solche Preise in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem gerechtfertigt werden? Zu fairen Arzneipreisen hörte der Deutsche Ethikrat Experten an.

Für 3,65 Euro kann man hierzulande einen Patienten ein Jahr lang mit dem häufigsten verordneten Medikament, dem Blutdrucksenker Ramipril, behandeln, sagt Prof. Dr. Bertram Häussler vom Berliner IGES Institut, denn der Herstellerabgabepreis beträgt rund 1 Cent pro Tagesdosis. Bezogen auf alle verordneten 45 Mrd. Arznei-Tagesdosen jährlich erhalten die Hersteller im Schnitt 83 Cent pro Dosis.

Aber es gibt auch die teuren Innovationen, die selbst in wohlhabenden Ländern Fragen nach der dauerhaften Finanzierbarkeit aufwerfen. Den Spitzenplatz nahm im April 2022 nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) Libmeldy® mit einem Listenpreis von knapp 2,9 Mio. Euro ein. Der G-BA attestiert dem Medikament zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit bei Kindern einen Zusatznutzen. Den „fiktiven“ Zusatznutzen, den der Gesetzgeber Orphan Drugs grundsätzlich unterstellt, konnte der G-BA jedoch in mehr als der Hälfte der Fälle durch eine reguläre Nutzenbewertung nicht bestätigen.

4- bis 50-fach teurer als zu vermuten wäre

Stephan Kruip ist Patentprüfer, Mitglied des Deutschen Ethikrates und als selbst Betroffener Vorstandsmitglied des Mukoviszidose e.V. Er berichtet von der Wirkung des Medikaments Kaf­trio®, dessen erheblichen Zusatznutzen die damit behandelten Patienten für „unbezahlbar“ halten. Es ist die Solidargemeinschaft der Beitragszahler, die dafür tief in die Tasche greift, rechnet Kruip vor: Die drei Tabletten kosten pro Tag 700 Euro bzw. 21.000 Euro pro Monat oder 250.000 Euro im Jahr. Weltweit würden nur 12 % der infrage kommenden Patienten das Präparat erhalten. Allein in Argentinien gebe es eine nationale Ausnahme vom Patentschutz, was den Preis auf umgerechnet 3.600 Euro/Monat drückt. Theoretisch, so scherzt ­Kruip, wäre es für seine private Krankenversicherung billiger, ihm einen Hin- und Rückflug im Quartal zu bezahlen, um ihn dort den persönlichen Reisebedarf erwerben zu lassen.

Kruip bemüht verschiedene Vergleichsmaßstäbe, um den Preis nachzuvollziehen. Doch egal ob er die Einsparungen der ansonsten anfallenden Therapie, die Kosteneffektivität (QALY), die Produktionskosten oder den Return on Invest nach fünf Jahren ansetzt – das Produkt sei in allen Fällen um das 4- bis 50-Fache teurer als zu vermuten wäre. Was Kruip ärgert: Für die Bezahlung der Mukoviszidose-Spezialambulanzen wiederum fehlt das Geld – obwohl deren Bedarf mit 400 Euro pro Monat und Patient nur bei 2 % der Arzneikosten liege.

Gibt es eine „faire Gewinnmarge“ – und wie sollte man sie festlegen? Das lässt sich ethisch diskutieren – unter den Aspekten, dass ein Gesundheitssystem keine Person diskriminieren darf (Gleichbehandlung) und dass knappe Mittel nicht verschwendet werden sollten (Nutzenmaximierung). Aber es lässt sich so keine konkrete Vorgabe herleiten.

Letztendlich bleibt es eine Verhandlungssache, meint die Sozial­rechts-Professorin Dr. Dagmar ­Felix von der Universität Hamburg. In Deutschland hat der Gesetzgeber die Selbstverwaltung – den GKV-Spitzenverband – damit betraut, mit dem Anbieter einen Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der den festgestellten Zusatznutzen und einen Interessenausgleich abbildet. Doch stehen sich da auch ebenbürtige Verhandler gegenüber, fragt sich die Juristin. Ihr fällt auf, dass es recht selten zu Schiedsverfahren kommt.

WIdO-Mitarbeiter Helmut Schröder bringt in Sachen Kos­tendämpfung neben der Weiterentwicklung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) eine grundsätzlich veränderte Preissetzung ins Spiel: einen Algorithmus (Fair Pricing Calculator), der vom Internationalen Verband der Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit entwickelt wurde. Dabei wird auf die Kosten und Investitionen von Unternehmen ein Grundgewinn gewährt. Zusätzlich werden Therapieinnovationen mit einem Bonus honoriert, der vom Innovationsgrad des Arzneimittels abhängt. Schröder ist überzeugt davon, dass in den Arzneimittelpreisen noch „Luft“ drin ist, die man auf solche Weise rauslassen könnte, ohne die Innovationskraft der Pharmaindustrie zu schmälern.

Arzneiinnovationen sind schnell und breit verfügbar

Auch Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA, würden die internen Zahlen und Kalkulationen der Unternehmen sehr interessieren. Doch soweit geht die Transparenz nicht. Prof. Hecken spricht sich u.a. für Risk-sharing-Modelle aus – mit „Geld-zurück-Garantie”, wenn das Arzneimittel nicht die gewünschte Wirkung zeigt. Außerdem sollten bestimmte neue Behandlungsoptionen zunächst in spezialisierten Zentren angewendet und evaluiert werden. Prof. Hecken denkt hier u.a. an Onkologika und Orphan Drugs, die nur einen geringen Anteil an den Verordnungen, aber einen stattlichen Anteil an den GKV-Arzneiausgaben ausmachen.

Die behandelnden Ärzte sind die beste Jury, um festzustellen, ob eine hochpreisige Therapie gerechtfertigt ist, denn sie sehen den Erfolg direkt. So argumentiert Han ­Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen. Er zählt die schnelle und breite Verfügbarkeit von Arzneiinnovationen zu den Stärken des deutschen Gesundheitswesens. Der Anteil der GKV-Ausgaben für Arzneimittel liege schon lange stabil bei gut 16 %.

Wie der vfa-Präsident ist auch IGES-Chef Prof. Häussler davon überzeugt: Die heutige Gestaltung der Pharmapreise trägt wesentlich zu einer dauerhaft günstigen Versorgung mit Arzneimitteln bei. Nach Angaben der Europäischen Arzneimittelagentur EMA werden im Mittel rund 37 neuartige Wirkstoffe pro Jahr zugelassen; an der Spitze stehen Krebsmittel, gefolgt von antiviralen Mitteln. Entscheidend für diesen Zuwachs ist laut Prof. Häussler der zeitlich begrenzte, staatlich gesicherte Schutz neuer Produkte vor Nachahmung. In dieser Zeit könnten die Unternehmen Aufschläge auf die Produktionskosten verlangen, um Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) zu refinanzieren.

Der IGES-Chef beziffert die FuE-Aufwendungen im Schnitt mit 1,4 Mrd. Dollar pro neue Substanz. Internationalen Statistiken zufolge würden in der EU zwar 96 % der Produkte eine Marktexklusivität von mindestens zehn Jahren genießen. Das IGES hat aber festgestellt, dass im Mittel bereits sechs Jahre nach dem Markteintritt der Höhepunkt der Einnahmen überschritten ist.

Die Höhe der Anfangspreise neuer Präparate wird vor allem durch zwei Faktoren beeinflusst, sagt Prof. Häussler: die Zahl erwarteter Patienten und der Häufigkeit der Anwendung. „Arzneimittel sind teuer, wenn sie selten angewandt werden und exklusiv auf dem Markt sind. Sie sind billig, wenn sie ohne Patentschutz von vielen Menschen häufig eingenommen werden.“ Entscheidend sei, was nach dem Ende der Exklusivität geschehe und inwieweit der generische Wettbewerb einsetzt. Generika führten häufig zu Preissenkungen von 90 % und mehr.

Marktexklusivität und temporär hohe Preise ermöglichen eine langfristig global kostengünstige Versorgung mit Arzneimitteln, betont Prof. Häussler. So werde ein ständiger Strom neuartiger Wirkstoffe erzeugt, durch den das „Welterbe der Pharmazie“ stetig wachse. Die Arzneihersteller übernähmen den Ausbau einer globalen pharmazeutischen Infrastruktur. Staatliche Institution könnten das nicht leisten. Eine Alternative zu diesem Modell sei nicht in Sicht.

Quelle: Deutscher Ethikrat – Jahrestagung 2022