Wann es sich lohnt abzuwarten Keine Verzweiflungstaten am Rezeptblock!

Kolumnen Autor: Sandra Blumenthal

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Das Ärzteehepaar Jan und Ragnhild Schweitzer hat ein Buch unter dem Titel "Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker! Warum Abwarten oft die beste Medizin ist" veröffentlicht. Die Message soll sein, banale Beschwerden erst einmal ohne medizinische Hilfe auszusitzen.

Ich weiß nicht, wie Ihre letzte Sprechstunde so ablief, aber es gibt Tage, da möchte ich mir diese Nachricht auf die Stirn tätowieren. Ich komme vom Land und die Generation 60 plus erzählt sich gerne, wie man vor 50 Jahren Würmer noch durch aggressives Zuwarten und Warzen mit Löwenzahn kurierte. Meine Großmutter hatte am Ende Zehen, die einem der schicken Ku´damm-Dermatologen vermutlich Tränen in die Augen getrieben hätten. Ein Diabetes fiel in ihrer Jugend oft erst durch ein hyperglykämisches Koma auf. Es ist nicht so, dass ich mir diese Zeiten zurückwünsche, aber ich frage mich doch, warum die Menschen damals so viel gelassener waren, als sie es heute sind.

In meinen Konsultationen geht es nicht selten um Rückversicherung: "Ich wollte nur mal schnell einen Arzt draufschauen lassen. Ich wollte nur mal abklären, ob das nichts Schlimmes ist." Ich gebe die Frage häufig zurück und frage nach dem Bauchgefühl der Patienten – und meistens wird der banale Husten oder der gerötete Insektenstich auch als eben solcher eingeschätzt. Nur habe man sich nochmal rückversichern wollen. Wir Ärzte geraten in diesen Situationen nicht selten unter Zugzwang, dem Patienten, der eine Stunde im Wartezimmer gesessen hat, dann doch etwas anbieten zu müssen. Eine Vitamin-D-Bestimmung, weil das schon der dritte Infekt in diesem Frühjahr ist – oder ein Probiotikum, weil der Stuhlgang immer noch breiig ist. Auch Rückenschmerzen sind eine immerwährende Versuchung, doch noch Diagnostik oder Therapien anzustoßen, von denen wir eigentlich wissen, dass sie nicht indiziert sind.

Aber wir dürfen uns nicht zu Komplizen der Unsicherheit machen lassen. Die 8. DEGAM- Zukunftsposition postuliert: Hausärztliche Versorgung – der beste Schutz vor zu viel und falscher Medizin. Das bedeutet nicht nur, dass wir die Medikamentenpläne, die Patienten aus Kliniken mitbringen, kritisch prüfen müssen. Es heißt auch, dass wir unseren Patienten sagen, dass ein Zeckenbiss vorerst kein Weltuntergang ist und ein Virusinfekt, der länger als vier Tage dauert, kein Anlass zur Sorge. Leitlinien, insbesondere die unserer Fachgesellschaft, unterstützen uns bei der Frage, wann Diagnostik und Therapie indiziert sind – und wann es sich lohnt abzuwarten. Patientenleitlinien, die dieses Wissen mit den uns aufsuchenden Menschen teilen, sind deshalb eine gute Alternative zu Verzweiflungstaten am Rezeptblock. Jedes Scheinplazebo, das wir hinzufügen, befeuert nur die bereits vorhandene Unsicherheit unserer Patienten: Gut, dass ich doch noch zum Arzt gegangen bin. Er hat mir dann ja doch noch zu diesem Präparat geraten.

Es ist an uns zu signalisieren, manchmal fragen Sie vielleicht besser nicht Ihren Arzt oder Apotheker – vertrauen Sie doch auch mal auf Ihr Bauchgefühl. Den Strich durch die Rechnung macht uns dann leider manchmal ein geschäftstüchtiger Apotheker!


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Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (13) Seite 30
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.