Nationalsozialismus Lancet-Kommission beleuchtet die Rolle der Ärzteschaft
In zahlreichen Projekten befassen sich KVen, Fachgesellschaften und Ärztekammern mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Doch immer noch sei nicht deutlich genug dargelegt worden, welch tragende Funktion die Medizin für den NS-Staat hatte, konstatiert ein Bericht des Fachjournals „The Lancet“1 vom November 2023. Eine 20-köpfige Kommission beschreibt darin, wie Ärztinnen und Ärzte umfassend zur Legitimierung von Rassismus, Antisemitismus und Eugenik beitrugen. Und dass der Berufsstand eine Schlüsselrolle dabei spielte, menschenverachtende Praktiken nicht nur umzusetzen, sondern auch ihre Planung voranzutreiben. Die Kommission geht insbesondere der Frage nach, unter welchen Bedingungen sich eine Profession, die ethisch dem Wohl ihrer Patientinnen und Patienten verpflichtet ist, fast flächendeckend an der Diskriminierung und Ermordung von Menschen beteiligen konnte.
Weimarer Republik
In den politisch und wirtschaftlich instabilen 20er-Jahren fürchteten konservative Mediziner einen Abstieg ihres Berufsstandes, erklärt der Lancet-Bericht. Ihre Sorgen drehten sich um einen vermeintlichen Verlust der ärztlichen Autonomie, eine wachsende Distanz zu Patientinnen und Patienten, die Dominanz der Naturwissenschaften über die humanistische Praxis, einen starken Druck in Richtung Spezialisierung und mögliche Arbeitslosigkeit. Außerdem störten sie sich an sozialen Neuerungen, etwa daran, dass immer mehr Frauen und Angehörige der Arbeiterklasse Medizin studieren konnten. Berufspolitische Konflikte seien scharf geführt worden, erklärt Dr. Ulrich Prehn, Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Er arbeitet die NS-Vergangenheit der KBV auf. Der erklärte Feind rechter Ärzte seien die als „rot“ empfundenen Krankenkassen gewesen, die damals noch Einzelverträge mit Leistungserbringern schlossen.
Die Ärzteschaft zog es stärker als irgendeine andere akademische Berufsgruppe zur NSDAP hin. Bis 1945 waren laut Lancet-Bericht 50-65 % der deutschen Ärzte beigetreten. Als Grund werden berufspolitische Interessen vermutet. Denn insbesondere die Absicht der Nationalsozialisten, Jüdinnen und Juden aus dem Beruf zu verdrängen, kam rechten und antisemitischen Teilen der Ärzteschaft entgegen: Nur 1 % der Bevölkerung war jüdisch, aber 10 % der Ärztinnen und Ärzte. Außerdem erhoffte sich der Berufsstand eine stärkere Zentralisierung. „Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen wurde zum Kampf gegen die demokratische Regierung der Weimarer Republik“, resümiert die Lancet-Kommission.
Auch die ideologischen Wurzeln für die systematische Ermordung von Menschen, die als wertlos erachtet wurden, finden sich schon vor der NS-Zeit. Verschiedene Wissenschaftszweige – neben der Medizin vor allem Statistik, Anthropologie, Rechtswissenschaften, Genetik und Sozialwissenschaften – diskutierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts international eugenische Ideen. Ziel war es, die vermeintliche „biologische Qualität“ einer Bevölkerung zu steigern, indem die Reproduktion von Personen, die als wertvoll galten, gefördert wurde, die von unerwünschten Personen verhindert. In Deutschland nahmen diese Überlegungen ihre extremste Form an. 1920 forderten der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding, Menschen mit Behinderung oder schweren psychischen Erkrankungen zu töten. Der Titel ihrer Schrift: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
Selbstgleichschaltung ab 1933
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 vollzog der Berufsstand sehr schnell seine eigene Gleichschaltung. Von einem von oben erzwungenen Prozess zu sprechen, wäre irreführend, meint Dr. Prehn. Korrekt sei der Begriff „Selbstgleichschaltung“.
Der Reichsinnenminister ernannte Gerhard Wagner, Arzt und NSDAP-Mitglied, zum Reichskommissar der ärztlichen Spitzenverbände. Bei einer Sitzung des Ärztevereinsbundes (das wichtigste Standesorgan dieser Zeit) am 24. März 1933 räumte der langjährige Vorsitzende Alfons Stauder folgsam seinen Platz. In der gleichen Sitzung wurden bereits jüdische und politisch unliebsame Vorstandsmitglieder ausgeschlossen. Bald darauf gab der Ärztevereinsbund bekannt, dass vorerst keine Ärztetage mehr stattfinden sollten. Auch die Gleichschaltung der Standespresse folgte schnell.
Im Sommer 1933 entstand die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD), von Beginn an ideologisch ausgerichtet. 1936 wurden alle Vereine und Ärztekammern aufgelöst. Rechtsnachfolgerin war die neu geschaffene Reichsärztekammer.
Zwangssterilisationen
Ab der Machtübernahme folgten Gesetze, die immer tiefer in die körperliche Integrität von Menschen eingriffen, die in der NS-Ideologie als minderwertig galten. Ärztinnen und Ärzte befolgten diese Gesetze nicht nur bereitwillig, sondern trieben Entwicklung und Umsetzung wesentlich voran, betont der Bericht. Ein Beispiel ist das am 14. Juli 1933 beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das Zwangssterilisationen vorsah. Es verpflichtete den Berufsstand, Menschen zu melden, bei denen z.B. Schizophrenie, manische Depression, Epilepsie oder die willkürliche Diagnose „Schwachsinn“ vorlagen. Über das weitere Schicksal der Betroffenen entschieden neu geschaffene „Erbgesundheitsgerichte“. Besetzt waren diese mit einem Juristen und zwei Ärzten. „Die Rolle in den Gerichten war zwar politisch vorbestimmt, aber Ärzte füllten sie bereitwillig aus“, berichtet Dr. Prehn.
Wer den Meldebogen verwendete, wusste, dass den Betreffenden die Zwangssterilisation, ab 1939 auch die Ermordung drohte, bestätigt der Historiker. Während Amtsärzte und Direktoren von psychiatrischen Kliniken oder Pflegeeinrichtungen meist gehorchten, sahen viele Niedergelassene aber davon ab, ihre Patienten zu melden, heißt es im Bericht.
Nach Schätzungen wurden während der NS-Zeit über 350.000 Menschen zwangssterilisiert. Wie bei anderen Verbrechen wurden die Meldenden nach 1945 nicht belangt, da sie „nur“ Formulare ausgefüllt hatten.
Massenmord
Ab 1939 begann die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen. Aber auch außerhalb der Tötungsprogramme ermordeten Personen in medizinischen Berufen aus Überzeugung heraus Patientinnen und Patienten, die sie für lebensunwert hielten, schreibt die Lancet-Kommission. Die Täter ließen ihre Opfer verhungern oder dosierten Betäubungsmittel über.
Das erste systematische Patienten-Ermordungsprogramm galt Kindern mit Behinderung. Mit „Aktion T4“ folgte die Ausweitung auf Menschen jeden Alters mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen. Ein früheres Gefängnis in Brandenburg sowie fünf psychiatrische Einrichtungen – Grafeneck, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Hadamar und Bernburg – wurden in Tötungszentren umgewandelt. Zwischen Januar 1940 und August 1941 starben dort mindestens 70.273 Menschen.
Wer getötet werden sollte, entschieden 40 Ärzte auf Basis von Fragebogen, die die Direktoren psychiatrischer Einrichtungen ausfüllten. Die finale Entscheidung lag beim Medizinischen Direktor des T4-Programms, bis 1941 Werner Heyde, danach Paul Nitsche.
Einer der Mythen, mit denen der Lancet-Bericht explizit aufräumen will, lautet, Psychiaterinnen und Psychiater seien gezwungen gewesen, an Programmen wie der „Aktion T4“ mitzuwirken. Als Gründe für die Komplizenschaft nennt der Bericht: autoritäres Denken, Opportunismus, persönliche Überzeugung.
Die hier genannten Morde und Zwangssterilisationen bilden die Mitwirkung von medizinischen Berufen an NS-Verbrechen bei Weitem nicht vollständig ab.
Lehren für heute
Wenn man fragt, wie Ärztinnen und Ärzte zu solchen Gräueltaten fähig sein konnten, liegt der Schluss nahe, sie hätten sich keinerlei moralischen Prinzipien verpflichtet gefühlt. Doch das sei falsch, stellt der Lancet-Bericht klar. Sie fühlten sich einer Ethik verpflichtet – allerdings einer rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen, die bestimmte Menschen als genetisch minderwertig erachtete. Nach NS-Ideologie dienten die Angehörigen medizinischer Berufe einem imaginierten, rassisch reinzuhaltenden „Volk“, nicht dem Einzelnen.
Um zu verhindern, dass die Medizin jemals wieder in eine völkische, rassistische Ideologie abrutscht, formulieren die Autoren eine Reihe von Forderungen, die vor allem die Lehre betreffen. Man müsse Studierende darauf vorbereiten, institutionellen Rassismus und Antisemitismus anzusprechen und Lehrende zu melden, die sich missbräuchlich verhalten.
Die Geschichte zeige außerdem, dass die Werte medizinischer Arbeit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen unterliegen. Sie müssten kritisch hinterfragt und bestärkt werden, um nicht ausgrenzend zu werden. Individuen und ihre universellen Menschenrechte müssten immer vor völkischen Ideologien stehen.
Medical-Tribune-Bericht
1. The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: DOI.org/10.1016/S0140-6736(23)01845-7