Urteil fahrlässige Tötung Schülerin mit Typ-1-Diabetes könnte noch am Leben sein
Der Fall der verstorbenen Schülerin, die seit ihrem 6. Lebensjahr mit Typ-1-Diabetes lebte, schlägt seit Jahren hohe Wellen – in den Medien ebenso wie in der Diabetes-Community, bei den Eltern anderer Kinder mit Diabetes und unter Lehrkräften. Mit dem jüngsten Urteil ist er nun vorläufig zu einem Abschluss gekommen. Doch der Weg dorthin war lang. So ermittelte die Staatsanwaltschaft zwar anfänglich gegen die Lehrkräfte, die bei der jahrgangsübergreifenden Stufenfahrt der Theo-Hespers-Gesamtschule in Mönchengladbach die Aufsichtspflicht hatten. Doch dann wurden die Ermittlungen überraschend eingestellt und erst auf Druck von Emilys Vater, Kay Schierwagen, wieder aufgenommen. 2023 wurde der Fall schließlich zur Hauptverhandlung zugelassen. Der Prozess fand Anfang 2024 vor dem Landgericht Mönchengladbach statt.
An fünf Prozesstagen versuchten Richter und Staatsanwaltschaft zu rekonstruieren, wie es zu Emilys Tod kommen konnte. In den Zeugenstand waren auch einige der damaligen Mitschüler von Emily geladen, die sich an die Stufenfahrt erinnerten. Sie berichteten ausführlich, dass es Emily bereits am Donnerstag, dem ersten Tag in London, schlecht ging. Dass sie im weiteren Verlauf das Hotelzimmer kaum verlassen konnte, sich in immer kürzeren Abständen erbrach und am Ende nur noch vor sich hindämmerte. Und sie betonten immer wieder, sie hätten die begleitenden Lehrkräfte mehrfach um Hilfe gebeten, doch diese hätten nicht selbst nach Emily gesehen. Stattdessen hätten sie zwei Mädchen mit Emilys Betreuung im Hotelzimmer beauftragt, während sie selbst mit den anderen Jugendlichen London erkundeten.
Die beiden 14-Jährigen fühlten sich mit dieser Aufgabe allerdings heillos überfordert. Per Sprachnachricht, die im Gerichtssaal abgespielt wurde, wandte sich eine von ihnen an ihre Mutter: „Wir sollen nun hierbleiben und auf sie aufpassen. Aber sie sackt uns permanent weg! Wir sind doch keine Lehrer, wir haben doch keine Aufsichtspflicht!“
Erst am Samstag, dem Abreisetag, seien die Lehrkräfte vormittags in das Zimmer gekommen, in dem Emily auf dem Bett lag und kaum noch ansprechbar war. Die dann alarmierten Rettungskräfte stellten einen Blutzuckerwert von >1400 mg/dl fest und brachten das Mädchen ins Krankenhaus. Dort besserte sich Emilys Zustand zunächst, doch dann erlitt sie infolge der fortgeschrittenen Übersäuerung ihres Organismus, die insbesondere die Herzkranzgefäße schädigte, am Sonntag, den 30. Juni 2019 einen tödlichen Herzinfarkt.
Zu scharfes oder schlechtes Essen plus Insulinmangel
Dieser Tod wäre nach Einschätzung der hinzugezogenen Gutachterin Dr. Joaquina Mirza, Kinderdiabetologin und -endokrinologin an den Kliniken Köln, mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zu verhindern gewesen, wenn die diabetische Ketoazidose rechtzeitig erkannt und behandelt worden wäre. „Man hätte Emily fast zu jedem Zeitpunkt noch retten können, zumindest am Freitag noch ganz sicher.“
Für ihr Gutachten hat Dr. Mirza die Unterlagen des britischen Krankenhauses studiert, in dem Emily behandelt wurde. Die darin dokumentierten Keton- und pH-Werte „waren mit dem Leben nicht vereinbar“, erklärte die Ärztin. „Eine so schwere Ketoazidose habe ich zuvor noch nie gesehen.“
Für sie ist klar, dass die Stoffwechseldekompensation bereits am Donnerstagabend begann, nachdem Emily mit Freundinnen chinesisch gegessen hatte. Nach dem Restaurantbesuch war drei Mädchen übel gewesen, sie hatten sich übergeben. Doch anders als bei ihren Freundinnen steckte bei Emily neben dem zu scharfen oder schlechten Essen auch ein Insulinmangel dahinter.
Denn offenbar hatte sie für die Mahlzeit und auch im weiteren Verlauf kein oder nicht ausreichend viel Insulin abgegeben. Zudem zeigt das Protokoll ihrer Insulinpumpe, dass ab Donnerstag kein Wechsel des Katheters mehr erfolgte. Dr. Mirza erklärte hierzu, es sei nicht untypisch, dass Kinder sich in einem ungewohnten Setting wie einer Klassenfahrt anders verhalten, ihren Diabetes möglicherweise nicht offenbaren wollen und ihn deswegen zeitweilig ignorieren, „auch wenn sie in ihrem normalen Umfeld anders damit umgehen und die Pumpe offen zeigen“.
Diesen Eindruck bestätigte auch Kinderdiabetologin Dr. Ursula Strier, Oberärztin an den Städtischen Kliniken Mönchengladbach, die Emily seit 2011 betreute. Emily habe ihren Diabetes schon als Kind sehr selbstständig gemanagt. Ab 2018 sei es zu pubertätstypischen Glukoseschwankungen gekommen. „In der Schule hat sie dann auch häufiger mal Insulingaben ausgelassen, das kann man an den Glukoseverläufen gut erkennen.“
Im April 2019 hätten ihr Emily und ihre Mutter beim regulären Quartalstermin von einer beginnenden Ketoazidose just am Tag zuvor berichtet. Emily hatte sich nachts unbemerkt den Katheter herausgerissen, sodass die Insulinzufuhr für etliche Stunden unterbrochen war. Aus Angst vor einer drohenden Hypoglykämie hatten Emily und ihre Mutter – anders als es im Notfallschema zur Behandlung einer Ketoazidose empfohlen wird – nicht mit einer erhöhten Insulindosis korrigiert. Dr. Strier klärte Emily und ihre Mutter also erneut ausführlich über das Vorgehen im Fall einer beginnenden Ketoazidose auf. „Gerade deshalb hatte ich überhaupt keine Bedenken, das Mädchen auf die Stufenfahrt zu lassen.“
Ein weiteres Argument für Schulgesundheitsfachkräfte
Der tragische Tod von Emily unterstreicht die Forderung der Deutschen Diabetes Gesellschaft und des Verbands Bildung und Erziehung nach Schulgesundheitsfachkräften an Schulen. Diese könnten einen wichtigen Beitrag zur Inklusion von Kindern mit Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen leisten und bei Aktivitäten wie Ausflügen oder Schulfahrten auch als Bindeglied zwischen medizinischem Fachpersonal, Kindern, Eltern und Lehrkräften fungieren. Das würde helfen, fatale Informationsdefizite zu vermeiden.
Wie zuvor die Gutachterin Dr. Mirza bestätigte auch sie, dass die Insulinpumpe einwandfrei funktioniert und auch Insulin abgegeben hatte, „doch ob das Insulin in den Körper gelangt oder ins Bettlaken gesickert ist, lässt sich nicht nachvollziehen.“
Den beiden angeklagten Lehrerinnen war die medizinische Vorgeschichte von Emily allerdings bis kurz vor Eintreffen der Rettungskräfte am Samstag in London nicht bekannt. Die 34-jährige Marina M. und ihre 60 Jahre alte Kollegin Anna A. hatten sich auf Anraten ihrer Verteidiger lange nicht inhaltlich zu den Vorwürfen geäußert. Erst am dritten Prozesstag brachen sie ihr Schweigen. Emilys Tod sei das Schlimmste, das sie je erlebt hätten und tue ihnen unendlich leid, erklärten beide in emotionalen Einlassungen, bevor sie ihre Erinnerungen an die Stufenfahrt ausführlich schilderten.
Demnach hatte es im Vorfeld der Fahrt zwar eine Infoveranstaltung gegeben, bei der die anwesenden Eltern auch gebeten wurden, sich im Fall gesundheitlicher Besonderheiten an die begleitenden Lehrkräfte zu wenden. Doch eine verbindliche schriftliche Abfrage sei nicht erfolgt. „Das hat in den Vorjahren immer gut geklappt“, erklärte Anna A.
Ihre Kollegin Marina M. gab zu, dass sie nicht auf die Idee gekommen sei, in die Schulakten der Schülerinnen und Schüler zu schauen oder sich bei der jeweiligen Klassenleitung nach Vorerkrankungen zu erkundigen – immerhin kannten sie einen Großteil der 70 teilnehmenden Jugendlichen bislang nicht aus dem Unterricht.
Doch auch das konkrete Verhalten der Lehrkräfte während der Tage in London warf vor Gericht Fragen auf: Warum sie die drei Mädchen nicht in ihrem Zimmer aufsuchten, als sie am Freitagvormittag erfuhren, dass es ihnen nicht gut geht? „Ich habe gedacht, es reicht, wenn wir telefonisch erreichbar sind“, erklärte Marina M. Bei ihren abendlichen Kontrollgängen sei ihnen nichts Besonderes aufgefallen.
Die Vorwürfe von Emilys Mitschülern, die Lehrkräfte hätten auf mehrere Hilferufe nicht reagiert, konnte sie sich nicht erklären: „Hätte ich zu irgendeinem Zeitpunkt erfahren, dass sich eine Schülerin dauerhaft erbricht, wäre ich natürlich hingegangen, hätte die Eltern informiert und einen Rettungswagen gerufen.“
Auf die richterliche Frage, ob sie rückblickend einen Fehler in ihrem Verhalten erkennen würde, antwortete ihre Kollegin Anna A.: „Ich weiß nicht, was wir hätten besser machen können. Wir sind ja auch nur Menschen und können nicht in die Köpfe der Kinder schauen.“
Den vorsitzenden Richter, die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage überzeugte diese Einschätzung allerdings nicht. Sie bewerteten die Schilderungen und das Bedauern der Angeklagten zwar grundsätzlich positiv. Doch sie hielten die Zeugenaussagen der Schüler für sehr glaubwürdig.
Für das am 15. Februar 2024 gesprochene Urteil – fahrlässige Tötung durch Unterlassung – war am Ende entscheidend, dass sich die Lehrerinnen vor der Schulfahrt nicht schriftlich über Vorerkrankungen der teilnehmenden Jugendlichen erkundigt hatten und damit nichts von Emilys Diabetes wussten. Emily und ihre Eltern hatten vor der Schulfahrt zwar nicht explizit auf ihre Erkrankung hingewiesen, diese war aber in ihrer Schulakte vermerkt – und auch im Lehrerzimmer hing nach Aussage der Eltern ein entsprechender Hinweis am schwarzen Brett.
Elternzeit mindert die verhängte Geldstrafe
Der Vater von Emily, Kay Schierwagen, ist zufrieden mit dem Ausgang des Verfahrens: „Das macht meine Tochter zwar nicht wieder lebendig. Doch es ist ein richtungsweisendes Urteil, denn so etwas darf sich nicht wiederholen.“
Anna A. wurde zu 180 Tagessätzen à 130 Euro und damit insgesamt 23.400 Euro Geldstrafe verurteilt. Für ihre Kollegin Marina M., die sich zurzeit in Elternzeit befindet und über weniger Einkommen verfügt, belaufen sich die 180 Tagessätzen à 40 Euro auf insgesamt 7.200 Euro.
Wird das Urteil rechtskräftig, sind beide Lehrerinnen vorbestraft. Die disziplinarrechtliche Bewertung durch den Dienstherrn der Lehrkräfte steht noch aus. Allerdings wurde wenige Tage nach der Urteilsverkündung bekannt, dass beide Lehrerinnen Revision eingelegt haben.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht