„So fingert man richtig“ ist YouTubes Nr. 1 – Ein Armutszeugnis für öffentliche Aufklärungsstellen
Welche Penisgröße ist normal? Welche Stellung ist für das erste Mal am besten? Warum stöhnen Frauen beim Sex? Im Internet nehmen Heranwachsende kein Blatt vor den Mund. Rund die Hälfte aller Jugendlichen richtet sich heute mit ihren Fragen zu Liebe und Sexualität am liebsten an Dr. Google, Youtube und andere virtuelle Informationsquellen, berichtet Professor Dr. Nicola Döring vom Institut für Medien und Kommunikationswissenschaften der Technischen Universität Ilmenau.
Techniken interessanter als Geschlechtskrankheiten
Der WHO und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) macht das Sorgen. In ihren „Standards für die Sexualaufklärung in Europa“ warnen sie vor den „verzerrten, unausgewogenen, unrealistischen und oftmals gerade für Frauen herabsetzenden Informationen“ aus den Online-Quellen. Die Medienwissenschaftlerin hält dies für eine etwas einseitige Perspektive: Da den einschlägigen Fachorganisationen inzwischen droht, bei dem Wettlauf um die Aufmerksamkeit im World Wide Web ins Hintertreffen zu geraten, müssten sie vielmehr von der Konkurrenz lernen und sich auf den Trend besser einstellen.
Als wichtigsten Ansprechpartner der Jugendlichen in Sexualitätsfragen hat Prof. Döring die Suchmaschinen ausgemacht. Das Spektrum der angesprochenen Themen ist dabei breit, denn wenn die Heranwachsenden eines ganz besonders an ihren neuen Vertrauenspersonen schätzen, dann ist es laut Umfragen ihre Anonymität und Diskretion. In 38 % der Fälle werden bei Google Themen zur Sexualität im engeren Sinne abgefragt (Techniken, Selbstbefriedigung, sexuelle Identität). Fragen nach Fruchtbarkeit und Schwangerschaft, Körper und körperlichen Veränderungen sowie Gesundheit und Geschlechtskrankheiten spielen eher eine untergeordnete Rolle. In Bezug auf HIV gibt es ein Muster, wann Jugendliche sich online mit der Infektion beschäftigen: montags, im Umfeld des Welt-AIDS-Tags und nach dem Outing von Prominenten.
Online-Sexualaufklärer bekommen Fanpost
Große Bedeutung hat zudem die Videoplattform Youtube. Dort existieren inzwischen sehr reichweitenstarke Sexualaufklärungskanäle, die mindestens wöchentlich neue Videos anbieten. Sexualpädagogen tummeln sich hier ebenso wie Sexshopbetreiber, Medienunternehmen und Lesben-, Schwulen- und Transgendergruppen.
Meistgeklickter deutschsprachiger Film ist hier mit 15 Millionen Besuchern ein sexualpädagogisches Werk: „Freundin fingern – so fingert man richtig! Die besten Techniken!?“ Aber auch Videos zu anderen Themen (z.B. „Porno-Lügen“, „HIV-Test“, „Kondom richtig überziehen“) erzielen Zehntausende von Abrufen. Online-Sexualaufklärer erreichen sogar einen gewissen Star-Status samt Fanpost und Fantreffen.
Per Suchmaschine stolpern die Jugendlichen gerade bei Fragen zu sexuellen Techniken aber auch über klassische Pornoangebote. Das Anzeigen entsprechender Videos lässt sich über die Google-Jugendschutzoption „SafeSearch“ verhindern – man muss dann aber den Verlust manches seriösen Aufklärungsangebots mit einkalkulieren. Was die Filmchen und Webseiten bewirken, ist nicht einmal für die etablierten Anbieter erforscht. Die wenigen Wirksamkeitsstudien weisen laut Prof. Döring oft methodische Mängel auf und beziehen sich teilweise auf sehr spezielle Onlineinterventionen. Das kann man schon fast eine Ohrfeige für die offiziellen Stellen nennen. Auch sonst kommen die BZGA und ihresgleichen nicht sonderlich gut weg: Für Nutzspaß, Nützlichkeit, Gebrauchstauglichkeit ihrer Angebote lägen nur aus älteren Studien positive Bewertungen vor und selbst bei Verständlichkeit und Zuverlässigkeit stießen sie in Untersuchungen teilweise an ihre Grenzen.
Über Google zu Dr. Sommer
„Die BZGA sollte ihre Strategie dringend überdenken!“
Noch ernüchternder ist aber ein anderes Fazit der Analyse: Bei Google- und Youtube-Suchen landen die offiziellen Aufklärer der Nation regelmäßig auf den hinteren Rängen; wen wundert es da, dass unseriösere Angebote eine viel größere Sichtbarkeit und Reichweite erlangen. Die BZGA und ihresgleichen sollten ihre strategische Ausrichtung dringend überdenken, rät Prof. Döring. So sollte die Sichtbarkeit der Angebote z.B. durch Suchmaschinenoptimierungen oder Verlinkungen bei Wikipedia verbessert werden. Und statt eigene Plattformen zu betreiben, könnten Fachorganisationen sich mit ihrer Expertise stärker dort einbringen, wo Jugendliche im Internet ohnehin aktiv sind. Und bei Schulen und Erziehern regt sie an, den Umgang mit der Onlinesexualaufklärung stärker als Thema aufzugreifen und die entsprechende Internetkompetenz intensiver zu fördern.Döring N. Bundesgesundheitsbl 2017; 60: 1016-1026.