Terroristen sind keine Patienten, Patienten sind keine Terroristen!
Auch beim Berlin-Attentäter Anis Amri kamen die ersten Meldungen wie bei solchen Anlässen weltweit üblich: Psychisch Erkrankter verübt brutales Attentat! Aus meiner naiven Sicht sind Leute, die Menschen brutal ermorden, erdolchen, mit dem LKW überfahren, köpfen, lebendig verbrennen oder erstechen, das noch dazu im Namen einer Religion, Weltanschauung, politischen Doktrin oder einer anderen für mich nicht nachvollziehbaren Motivation heraus töten, allesamt schlicht kranke A… Damit meine ich "krank" nicht wörtlich, sondern eher in der Art "aus der Norm fallend", auch vielleicht zu ersetzen mit "asozial", "brutal" oder was immer einem dazu noch an vor Abscheu triefenden Ausdrücken einfallen mag.
"Wenn es sich um einen psychisch Kranken handelt, versagt das Wort. Weitere Fragen nicht erwünscht"
Was aber allenthalben in den nicht nur deutschen Medien geschieht, dass terroristische Taten in rasender Geschwindigkeit mit einem medizinischen Etikett versehen werden, das geht mir zunehmend gegen den Strich. Es scheint sich durchweg erst einmal um "geistig verwirrte Einzeltäter" zu handeln. Psychisch Kranke werden kriminalisiert und in Sippenhaft genommen, während die Verbrechen der Täter verharmlost werden.
Der Messerstecher sei "psychisch krank" und wahrscheinlich nicht einmal verhandlungsfähig. Der Anschlag war in den seelischen Problemen des Täters, der hier zum Opfer gemacht wird, begründet. Auch der Mann, der in Straßburg einen Juden mit einem Messer angriff, war, wie örtliche Journalisten wussten, "wegen früherer psychiatrischer Probleme bekannt" gewesen. Der Nizza-Attentäter, der im Sommer mehr als 80 Menschen ermordete, habe "an Depressionen gelitten und habe sich in psychologischer Behandlung befunden". Was will uns der Dichter damit sagen? Klarer Fall: Wenn es sich um einen psychisch Kranken handelt, versagt das Wort. Weitere Fragen nicht erwünscht.
Auch radikalisierte und gewalttätige Jugendliche leiden nur selten unter einer psychischen Erkrankung, so Experten. Die jungen Menschen haben eher öfter ein Problem mit sozialer Isolation, Heimatlosigkeit, zerbrochenen Familien. Das Verlockende an der Radikalisierung sind einfache Wahrheiten, ein Gemeinschaftsgefühl, klare Identitäten und Feindbilder, Abenteuer und Sinngebung.
"Verheerend ist es, psychisch Kranke unter Generalverdacht zu stellen“
Mag sein, dass einige Terroristen, gleich welcher Couleur, psychisch krank sind. Leute, die anderen den Kopf abschneiden, müssen zumindest auch irgendwie "anders ticken". Die individuellen Motive für terroristische Morde sind zu allermeist aber komplex und entwickeln sich aufgrund eines multifaktoriellen Geschehens. Klarzustellen gilt – und darauf legen auch die betreffenden Fachgesellschaften wert : Störungen der Persönlichkeit und Psyche sind statistisch nicht mit der Ausübung von Terrorakten verbunden!
Es ist unredlich und in hohem Maße falsch, den Eindruck zu erwecken, psychisch Kranke wären messerwetzende potenzielle Mörder in Warteposition, "Schläfer" gewissermaßen. Verheerend ist es, psychisch Kranke unter Generalverdacht zu stellen und ihre Krankheit als eine Bedrohung für die Allgemeinheit aufzublasen.
Haben Sie sich einmal gefragt, warum der "geistig verwirrte Einzeltäter" bei terroristischen Attentaten immer zuallererst ins Spiel gebracht wird? Was soll heute nicht gesehen, nicht debattiert, nicht ausgesprochen werden? Schnelldiagnosen lenken vom eigentlichen Problem ab. Millionen psychisch Kranke werden unterschwellig kriminalisiert, psychische Störungen seien "mit Verbrechen assoziiert"… Die Frage nach dem Motiv der einzelnen Tat wird gekonnt verschwiegen und ad absurdum geführt. Dabei käme es in unserer derzeit so verunsicherten Gesellschaft vor allem auf eine kühle Analyse und daraus abgeleitete Strategien an, die auch für die Bevölkerung transparent und unaufgeregt kommuniziert werden.
Wer Terrorismus kommunikativ mit Wahnsinn koppelt, macht es sich einfach, allzu einfach. Denn es trägt nichts zur Lösung des Problems bei. Es verschleiert die Tatsachen und verzögert den Zugang zu nachhaltigen Lösungen. Experten haben unlängst für die Berichterstattung rund um dieses Thema die Entwicklung einer freiwilligen Leitlinie vorgeschlagen, wie es sie bereits für die journalistische Berichterstattung von Suiziden gibt. Ein Anfang.