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Praxiskolumne Vom Internethype zum Sprechstundenstreit

Verstehen Sie mich nicht falsch: Bei spezifischen Symptomen und ausführlicher evidenzbasierter Abklärung bin ich der Letzte, der nicht auch in eine solche Richtung denken würde. Jedoch bedarf es immer eines klaren Fahrplans. Das willkürliche Bestimmen von Werten, die Patientinnen und Patienten auf Instagram und Co. in einem Video gesehen haben und jetzt ermittelt haben wollen, ist das Gegenteil davon.
Hat man es mit Beschwerden zu tun, die oft psychosomatisch sind, und teilt man das seinem Gegenüber mit, erntet man meist Unverständnis. Manche sind enttäuscht, andere werden trotzig oder aggressiv, weil sie sich mit einer „Psycho-Diagnose“ nicht abgeholt fühlen.
Ich möchte noch einmal betonen: Sicherlich bedarf es stets einer gewissenhaften Abklärung. Und natürlich gibt es immer wieder Graubereiche, wie zum Beispiel einen vorhandenen Eisenmangel bei Frauen, einen Testosteronmangel bei Männern und viele, viele weitere infrage kommende Faktoren, die Beschwerden verursachen können. Oft ist aber nicht leicht zu sagen, wann eine auffällige oder grenzwertige Messung wirklich die Ursache für bestimmte Symptome darstellt und wann diese zumindest psychosomatisch mitverursacht werden.
Wir leben in einer Gesellschaft der Selbstoptimierung – und gleichzeitig einer der unfassbaren Bequemlichkeit. Viele Menschen würden alles dafür geben, einfach nur eine Pille einnehmen zu können, um nicht jeden Tag sportlich aktiv sein zu müssen oder auf eine gesunde Ernährung zu achten. Das ist aus meiner Sicht nicht nur unnötig, sondern auch gefährlich.
Wenn man den Lebensstil von Patientinnen und Patienten betrachtet, die mit Kraftlosigkeit, Müdigkeit und Abgeschlagenheit in die Sprechstunde kommen und bei denen keine diagnostizierbare Erkrankung dahintersteckt, fällt häufig auf: Es hakt bei den vier Säulen Schlaf, Stress, Ernährung und Bewegung. In den allermeisten Fällen an mindestens zwei dieser Säulen, meist jedoch an allen vieren. Die grundlegende Bereitschaft, etwas zu ändern, haben viele der Betroffenen. Jedoch fällt es den meisten sehr schwer, aus ihren Gewohnheiten auszubrechen und nicht wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
Es gibt aktuell keine Instanz, die neben dem Verbraucherschutz systematisch gegen gezielte Fehlinformationen im Internet vorgeht, die häufig mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung und zum Vertrieb eines Produkts gepostet werden. Teilweise schafft es der Verbraucherschutz sogar, diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben. Meist sind ihm jedoch die Hände gebunden. Handelt es sich um Medizinstudierende und Pflegekräfte, die Falschinformation verbreiten, können auch die zuständigen Ärztekammern nicht eingreifen. Wir, die Ärztinnen und Ärzte vor Ort, sind dann die letzte Instanz der Richtigstellung.
Auch in einer vollen Sprechstunde nehme ich mir, wenn irgendwie möglich, Zeit für diese Menschen. Denn ich denke, dass wir als Hausärztinnen und Hausärzte unsere „Mentorenfunktion“ ernst nehmen sollten. Bevor unsere Patientinnen und Patienten das Vertrauen in uns verlieren – und sich gesundheitliche Tipps und Ratschläge nur noch von Pseudoexperten aus dem Internet holen.
Ihr
Sebastian Alsleben