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Bei indikationsgerechter Verordnung spielt Suchtpotenzial kaum eine Rolle

Wären Opioide und NSAR so sicher wie die cannabinoiden Arzneimittel, gäbe es in Europa und den USA mehrere Tausende Tote weniger. Diese Ansicht vertritt Prof. Dr. Thomas Herdegen vom Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie an der Kieler Universitätsklinik. Er stützt sich dabei auf die Ergebnisse diverser Metaanalysen und Registerstudien sowie auf die Resultate der CaPRis-Studie aus dem Jahr 2018. Letztere sollte seinerzeit im Auftrag der deutschen Bundesregierung Potenziale und Risiken von Cannabis als Genussmittel und als Arzneistoff klären.
Schwere Nebenwirkungen in erster Linie nach dem Rauchen
Geht es um das Sicherheitsprofil von Cannabis als Medizin, ist zwischen der Inhalation und der oralen Einnahme zu unterscheiden, stellt Prof. Herdegen klar. Ernste Nebenwirkung treten vornehmlich beim unkontrollierten Rauchen von Marihuana auf, nicht aber beim oralen Gebrauch synthetischer Cannabinoide oder der Extrakte mit eindeutiger medizinischer Indikation. So ist Tetrahydrocannabinol (THC) per os als Appetitstimulans sogar bei kachektischen Heimbewohnern wirksam, ebenso bei Alzheimerkranken und bei Patienten in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung.
In einer kanadischen Studie mit 215 chronischen Schmerzpatienten traten bei oralem Gebrauch folgende leichte bis mittelschwere THC-assoziierte Nebenwirkungen relativ häufig auf:
- Kopfschmerz (4,9 %)
- Nasopharyngitis (4,5 %)
- Übelkeit (4,4 %)
- Schläfrigkeit (3,6 %)
- Erbrechen (2,1 %)
Bei 1–3 % der Patienten fand sich dosisabhängig eine Abnahme des Blutdrucks mit reflektorischer Tachykardie. Deutlich seltener (0,1–1 %) waren Amnesie, euphorische Stimmung, Schwitzen und Paranoia.
In aller Regel sind die Nebenwirkungen von oralem medizinischem THC vorübergehend und reversibel, so Prof. Herdegen. Dennoch können sie den Patienten so stark belasten, dass sie zum Therapieabbruch führen. Meist treten die Effekte in den Wochen des Aufdosierens auf und schwächen sich in der Folge ab. Offensichtlich gewöhnt sich der Körper also an die Nebenwirkungen, so der Experte, während der Therapieerfolg fortbesteht. Patienten, die in den ersten vier Wochen nicht auf THC ansprechen, sind seiner Auffassung nach als Non-Responder für cannabinoide Arzneimittel anzusehen.
Immer schön langsam machen
Im Wesentlichen sind die Nebenwirkungen von THC/Dronabinol und THC-dominierten Cannabinoidarzneimitteln wie Nabilon oder Nabiximols abhängig von:
- Tempo beim Aufdosieren (cave: fehlendes Einschleichen!)
- Dosis
- parenterale Applikation (inhalieren oder vaporisieren)
- Komedikation mit psychotrop-sedierenden Substanzen (z.B. Opioiden)
Kontraindikationen für medizinische Cannabinoide und Phytocannabinoide sind unter anderem:
- Schwangerschaft (THC ist plazentagängig)
- Sucht- und psychische Erkrankungen
- Alter unter 21 Jahren bzw. nicht abgeschlossene Hirnreifung
Die lange Schmerzkarriere der Patienten nicht vergessen
Analysen aus dem PraxisRegister Schmerz belegen die relativ gute Verträglichkeit von Dronabinol (THC) als Add-on bei Schmerzkranken, schreibt der Experte. Innerhalb von drei Monaten brachen 20 % von 1.145 Patienten die Therapie aufgrund von Nebenwirkungen ab, berichtet Prof. Herdegen. Bei 9 % zeigten sich psychiatrische Effekte wie Verwirrtheit, bei weniger als 1 % kam es zu schweren neuropsychiatrischen Nebenwirkungen wie Sucht, Ängsten, Halluzinationen oder Wahn. Bei diesen Real-World-Daten müsse man unbedingt die oft langjährige Schmerzkarriere der Registerpatienten im Blick haben, ihre häufigen psychiatrischen Kodiagnosen sowie die zum Teil sehr umfangreiche Komedikation, gibt der Experte zu bedenken. Ein solcher Krankheitskontext dürfte das Risiko für die unerwünschten Effekte verstärken.
Das Inhalieren von THC oder von Cannabinoiden aus Blüten hat dann medizinische Bedeutung, wenn der schnelle Wirkeintritt gefordert ist, etwa bei Durchbruchschmerz. Hanfblüten sollen vaporisiert und nicht geraucht werden, um exaktes Dosieren zu ermöglichen und das Missbrauchs- und Nebenwirkungsrisiko zu reduzieren. Beim Inhalieren liegen die initialen THC-Plasmaspiegel um das 10- bis 20-Fache höher als bei oraler Einnahme, womit auch die unerwünschten Arzneimittelwirkungen ungleich schwerer ausfallen. Es kommt zu:
- psychomotorischer Unruhe
- Angstsymptomatik (in niedriger Dosis ist THC angstlösend, höher dosiert angstverstärkend)
- Ausbildung (schwacher) Suchtprozesse
- Verstärkung der Nebenwirkungen, wie sie durch orales THC auftreten
Verglichen mit THC als Monosubstanz weist das synthetische THC-Derivat Nabilon bei ganz ähnlicher Pharmakokinetik eine deutlich stärkere Wirkpotenz und eine höhere Bioverfügbarkeit auf, erläutert der Pharmakologe. Dabei entspricht 1 mg Nabilon 7–8 mg THC. Folge ist ein schnelleres Anfluten höherer THC-Äquivalente beim Einsatz von Nabilon.
Für sämtliche cannabinoide Arzneimittel gilt Prof. Herdege zufolge, dass bei indikationsgerechter Verordnung die orale und einschleichende Zufuhr ein Höchstmaß an Sicherheit ermöglicht. Einem Extrakt mit balanciertem Verhältnis von THC zu Cannabidiol (CBD) ist aufgrund der besseren klinischen Verträglichkeit der Vorzug vor einer THC- oder Dronabinol-Monotherapie zu geben. Starten könne man etwa mit 1–3 mg THC abends bzw. 1 Sprühstoß Nabiximol mit nachfolgender Dosiserhöhung alle 2–3 Tage um 1–3 mg/d bzw. um 1 Sprühstoß. Bei älteren Patienten ist eher niedriger zu dosieren.
Quelle: Herdegen T. internistische praxis 2022; 65: 509-520
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