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Dissoziative Anfälle durch Sprache erkennen

Schon vor vielen Jahren begannen Dr. Martin Schöndienst, Neurologe am Epilepsiezentrum Bethel, und Linguisten der Universität Bielefeld zu untersuchen, wie Anfallspatienten ihre Anfälle beschreiben. Ziel war herauszufinden, ob die gewählten Formulierungen Rückschlüsse auf die Art der Anfallserkrankung erlauben. Für die Gespräche mit den Patienten wurde ein Leitfaden1 entwickelt, der Basis für viele Folgestudien war und fünf thematische Phasen vorsieht:
- Offene Phase, in der zunächst ungerichtet nach den Erwartungen an das Gespräch gefragt wird, der Patient einfach nur erzählen soll und selbst die Themen bestimmt, über die er sprechen möchte
- Anfallsbeschreibung („Was wissen Sie denn von Ihren Anfällen?“)
- Fokussierung einzelner Anfallsereignisse, z.B. auf den ersten, letzten, schlimmsten Anfall
- Erfragen bestimmter Anfallsaspekte: Vorgefühle, Bewusstseinslücke
- Ärztlich-epileptologische Exploration
Epilepsiekranke ringen um die richtige Beschreibung ihrer Symptome
Tatsächlich kam bei den Studien in Bethel heraus, dass Patienten mit Epilepsie und solche mit dissoziativen Anfällen ganz unterschiedlich mit dem Arzt sprechen, berichtete Dr. Markus Reuber vom Royal Hallamshire Hospital in Sheffield. Dies bestätigen auch seine eigenen Erfahrungen. So erzählen Patienten mit Epilepsie typischerweise schon nach der offenen Einstiegsfrage von ihren Anfallssymptomen, oft braucht der Arzt gar nicht weiter nachzufragen. Über ihr subjektives Anfallserleben geben sie detailliert Auskunft, wobei sie um die richtige Beschreibung ringen: Häufig kommt es zu Satzabbrüchen, Neuanfängen, Pausen und Reformulierungen.
Patienten mit nicht epileptischen Anfällen beschreiben – wenn überhaupt – oft nur oberflächlich ihre Symptome, sie fokussieren sich eher auf die Situationen, in denen Anfälle aufgetreten sind und die persönlichen Konsequenzen. „Es ist auf der Straße passiert, wie peinlich.“ Häufig wählen sie nur kurze Formulierungen.
Transskript-Analyse führte zur Diagnose dissoziativer Anfall
In einer eigenen prospektiven Studie2 untersuchte Dr. Reuber, wie zuverlässig die linguistische Analyse epileptische von dissoziativen Anfällen unterscheiden kann. Dafür prüften zwei Sprachwissenschaftler in Unkenntnis der mittels Video-EEG gestellten Diagnose die Videomitschnitte bzw. Transskripte von Arzt-Patienten-Gesprächen. Sie achteten auf insgesamt 17 vorgegebene linguistische Aspekte.
Bei 17 von 20 Patienten gelang es auf diese Weise die richtige Diagnose zu stellen. Die klinische Diagnose vor den Video-EEG-Untersuchungen war dagegen nur zu 40 % korrekt gewesen. „Mit dem Test haben wir bewiesen, dass die linguistischen Features durchaus diagnostisch nutzbar sind“, erklärte Dr. Reuber. Dass diese direkt im Gespräch und nicht nur in der Transskript-Analyse zuverlässig sind, müsse allerdings erst noch belegt werden.
Eine andere Untersuchung3 zielte auf die Metaphern, die Patienten benutzen, um ihre Anfälle zu beschreiben. Epileptiker verwenden vermehrt Metaphern, die zum Ausdruck bringen, dass der Anfall etwas unabhängig vom Patienten ausrichtet und der Kranke das Opfer ist: Der Anfall kommt, erwischt, verschwindet. Patienten mit nicht epileptischen Anfällen bringen sprachlich dagegen eher zum Ausdruck, dass der Anfall ein Ort ist, durch den der Patient reist. Er selbst ist der Agierende im Anfall, er driftet ab, geht in den Anfall hinein, durch ihn hindurch und wieder heraus.
Nicht-Epileptiker neigen zur Katastrophisierung ihrer Beschwerden
In der jüngsten Arbeit4, an der Dr. Reuber beteiligt war, analysierte eine Soziologin wiederum in Unkenntnis der Diagnose 20 Transskripte von Arzt-Patienten-Gesprächen. Die Frage war, ob und wie Anfallspatienten im Gespräch auf dritte, nicht anwesende Personen z.B. den Partner verweisen. Es zeigte sich, dass Patienten mit Epilepsie und solche mit nicht epileptischen Anfällen mit etwa gleicher Häufigkeit dritte Personen im Gespräch erwähnen.
Es fiel jedoch auf, dass die Nicht-Epileptiker sehr viel häufiger katastrophisierende Aussagen machten, z.B. „ich bin hilflos, mein Mann muss immer da sein“, während die Epileptiker in ihrer Darstellung klar zur Normalisierung – alles kein Problem - neigten. Sie spielten ihre psychosozialen Schwierigkeiten herunter. Hier muss man genau hinhören, um ihnen gezielt helfen zu können, forderte Dr. Reuber. Fragen Sie: „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Doch was bringen diese Erkenntnisse für die Praxis? Nach Erfahrung von Dr. Reuber kann man einige der Beobachtungen ganz einfach selbst machen, z.B. wenn man das Patientengespräch mit der Frage beginnt: „Wie kann ich Ihnen helfen?“, anstatt sofort auf den Überweisungsgrund – die Anfälle – zu zielen. Berichtet der Patient über seine Anfallssymptome oder darüber, dass er sein Leben unerträglich findet?
1 http://www.uni-bielefeld.de/lili/forschung/projekte/epiling/leitfaden.htm
2 Reuber M. et al., Epilepsy Behav. 2009; 16: 139-144
3 Plug L. et al., Epilepsia 2009; 50: 994-1000
4 Crowe C. et al., submitted 2012
Quelle: 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie e.V. in Stuttgart 2012
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