Kindesmisshandlung! Oder doch was anderes?

Dr. Alexandra Juchems

Keine Misshandlung, sondern eine Fehlbildung: die kongenitale Tibiapseudoarthrose. Keine Misshandlung, sondern eine Fehlbildung: die kongenitale Tibiapseudoarthrose. © Kinderradiologie Olgahospital Klinikum Stuttgart

Der Verdacht auf Kindesmisshandlung hat für die vermeintlichen Täter schwerwiegende Folgen. Suspekte Befunde sollten deshalb immer interdisziplinär begutachtet und hinsichtlich möglicher Differenzialdiagnosen aufgearbeitet werden.

Kindesmisshandlung aufzudecken ist eine diffizile Angelegenheit. Einerseits werden etliche Fälle verkannt – so liegt die Dunkelziffer  misshandlungsbedingter Frakturen, die überwiegend Kinder im Alter von unter drei Jahren betreffen, hoch. Andererseits kommt es immer wieder zu falschen Verdächtigungen mit allen daraus resultierenden Konsequenzen.

Intakte Familien werden bei falschem Verdacht zerstört

Ist die „Maschinerie“ aufgrund eines Verdachts erst einmal in Gang gesetzt, kann sie kaum noch gestoppt werden. Für zu Unrecht beschuldigte Familien bedeutet dies eine psychische und physische Zerreißprobe bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen und einer Inobhutnahme des vermeintlich misshandelten Kindes. Intakte Familienstrukturen können zerstört werden, schreiben Dr. Cleo Pickhardt vom Institut für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Mainz und Kollegen. Dieses albtraumhafte Szenario gelte es durch Aufklärung und eine gründliche interdisziplinäre Auswertung aller Befunde unter allen Umständen zu vermeiden, wie die folgenden beiden Fälle unterstreichen.

Fall 1

Der neun Monate alte Säugling ist vom Wickeltisch gefallen und hat anschließend erbrochen. Einige Wochen zuvor fiel das Kind aus dem Bett ca. 30 cm tief, berichten die Eltern den Ärzten einer Kinderklinik. Die können bei ihrem kleinen Patienten äußerlich keine Verletzungen erkennen.

Sonographisch und später auch in der Magnetresonanztomographie (MRT) zeigen sich ubiquitäre subdurale Flüssigkeitsansammlungen ohne Blutbestandteile und eine deutliche Erweiterung der inneren Liquorräume. Es finden sich keinerlei Hinweise auf eine angeborene Fehlbildung oder einen Parenchymdefekt bzw. eine Parenchymblutung. Bei der crania­len Computertomographie (cCT) fällt eine ausgeprägte Osteopenie der Kalotte auf. Frakturen können aber ebenso wenig nachgewiesen werden wie retinale oder Glaskörperblutungen. Die Stoffwechseluntersuchungen sind allesamt ohne pathologischen Befund.

Die Ärzte vermuten, dass der Säugling misshandelt wurde, und ordnen ein Röntgen-Skelett-Screening an. Dieses zeigt eine fortgeschrittene disseminierte Demineralisierung aller Skelettabschnitte mit becherförmiger Ausziehung der Metaphysen. Auf den langen Röhrenknochen erkennt man langstreckige periostale Auflagerungen, die ventralen Rippenanteile machen einen aufgetriebenen Eindruck. Der Säugling ist eindeutig dystroph und zu klein, Körpergewicht und Länge erreichen maximal die 3. Perzentile. Die Laborwerte zeigen einen „exzessiven“ Mangel an Vitamin D3, Vit­amin B12 und Eisen.

Säugling vegan ernährt und auf Vitamin D verzichtet

Aufgrund aller Befunde diagnostizieren die Pädiater eine Vitamin-D-Mangel-Rachitis, die – wie sich herausstellt – auf die strikte vegane Ernährung des Kindes und das Absetzen der Vitamin-D-Prophylaxe durch die Eltern zurückzuführen ist. Die Ärzte informieren das Jugendamt. Da sich die Eltern an alle (Ernährungs-)Auflagen halten, kann der Säugling in der Familie bleiben. Sein Gesundheitszustand bessert sich deutlich.

Fall 2

Mit Schmerzen und einer Schonhaltung des rechten Beins wird ein 18 Monate altes Mädchen stationär aufgenommen. Laut Aussage der Eltern hat es angeblich unbeobachtet auf einer Treppe herumgeturnt, ein Sturz sei von der Mutter gerade noch abgefangen worden, dabei habe sich das rechte Bein des Kindes im Treppengeländer verfangen. Die Röntgenaufnahme des Unterschenkels zeigt eine lineare Fraktur der Tibia und eine Antekurvation und Varusstellung von Tibia und Fibula. Nach initialer Ruhigstellung und nachfolgender Stabilisierung mittels Fixateur externe wird das Kind schließlich nach Hause entlassen.

Doch zwei Wochen später ist es wieder da: Der rechte Unterschenkel sei plötzlich angeschwollen, berichten die Eltern. Röntgenologisch stellt sich eine Refraktur der Tibiadiaphyse dar. Weitere zehn Tage später wird das Mädchen erneut vorgestellt, weil die Unterschenkelschwellung zugenommen hat. Die Ärzte schalten wegen des Verdachts auf Kindesmisshandlung die Rechtsmediziner ein. Die konsultieren wiederum einen Kinderorthopäden, der schließlich eine kongenitale Tibiapseudoarthrose feststellt.

AJPickhardt C et al. Monatsschr Kinderheilkd 2016; 164: 1020-1024

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