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Leitlinie stuft die Relevanz herab und sorgt für Diskussionen

Angesichts der weiten Verbreitung von Typ-2-Diabetes wird der Dysglykämie als Vorläuferstadium viel Bedeutung zugemessen. Typisch für diesen Prädiabetes sind leicht erhöhte Nüchternblutzuckerwerte, der Nachweis einer Glukoseintoleranz im oralen Glukosetoleranztest (OGTT) sowie ein HbA1c im hochnormalen Bereich. Letzteres wäre nach WHO-Kriterien ein Wert zwischen 6,0 % und 6,4 %, die amerikanische Diabetesgesellschaft spricht bereits ab einem HbA1c von 5,7 % von einem Prädiabetes.
Aber stellt diese Vorstufe eine eigenständige Entität dar, die eine spezifische Therapie erfordert? Oder ist sie nur im Kontext des gesamten kardiovaskulären Risikoprofils zu sehen, in dem andere Faktoren auch die Insulinresistenz beeinflussen? Die europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) hat eine klare Meinung dazu.
Mangelnde Evidenz und fehlender Mehrwert
In ihren jüngsten Leitlinien zum Management von kardiovaskulären Erkrankungen bei Menschen mit Diabetes wurde der Prädiabetes – anders als in den Vorversionen – nicht mehr als separates Behandlungsziel aufgenommen. Der Grund: mangelnde Evidenz und fraglicher Mehrwert. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Nikolaus Marx von der Medizinischen Klinik I am Universitätsklinikum Aachen unterstützt diese Entscheidung in einem Pro-Kontra-Beitrag. Menschen mit Prädiabetes hätten zwar ein erhöhtes Risiko für einen Typ-2-Diabetes. Und auch die Gefahr fürs Herz-Kreislauf-System steige – allerdings bei Weitem nicht in dem Ausmaß wie bei der manifesten Stoffwechselstörung.
Im Vergleich zur normoglykämen Gesamtbevölkerung führt der Prädiabetes zu einer absoluten Risikoerhöhung für kardiovaskuläre Ereignisse von 0,01 % pro Jahr. Selbst wenn bereits eine atherosklerotische Erkrankung vorliegt, steigt die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis durch Prädiabetes absolut um weniger als 1 % jährlich. Insgesamt scheint das Vorläuferstadium mit einem etwa 30 % höheren relativen Herz-Kreislauf-Risiko einherzugehen. Ein Großteil dieser makrovaskulären Komplikationen scheint laut Dr. Marx und seinem Team aber eher im Zusammenhang mit einem metabolischen Syndrom zu stehen. Wichtig ist für die Forschenden die Frage, ob sich die Rate an kardiovaskulären Ereignissen durch eine Therapie reduzieren lässt.
Mortalität bleibt von Therapie unbeeinflusst
Eine ältere Metaanalyse mit insgesamt mehr als 23.000 Teilnehmenden und einem durchschnittlichen Follow-up von 3,75 Jahren ergab, dass entsprechende Maßnahmen die Manifestation eines Diabetes hinauszögern können. Dabei waren Lebensstilinterventionen den pharmakologischen Ansätzen überlegen. Ein Unterschied in der kardiovaskulären oder Gesamtmortalität ließ sich im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe aber nicht erkennen.
In einer anderen Studie mit etwa 1.420 Teilnehmenden konnte zumindest mit Acarbose eine signifikante Ereignisreduktion erzielt werden. Die Rate war aber insgesamt sehr gering (15 vs. 32 Ereignisse), gibt das Autorenteam zu bedenken. Es kommt daher zu dem Schluss, dass eine Optimierung des Lebensstils bei Prädiabetes sowie ein allgemeines Risikofaktormanagement sinnvoll sind. Für die Empfehlung zu einer dezidierten Behandlung reiche die Evidenz jedoch nicht aus.
Prof. Dr. Lars Rydén von der Abteilung für Kardiologie am Karolinska-Institut in Stockholm und sein Team bewerten die Situation etwas anders. Sie weisen insbesondere auf die mit dem OGTT erfasste gestörte Glukosetoleranz hin. So habe die DECODE-Studie gezeigt, dass der Nüchternblutzucker kein unabhängiger Risikofaktor für die kardiovaskuläre und Gesamtsterblichkeit sei, die Glukoseintoleranz aber schon.
Die ESC-Leitlinie von 2007 griff diesen Aspekt noch auf. Die Empfehlung lautete, bei Personen mit atherosklerotischen Manifestationen oder einem erhöhten Risiko dafür einen OGTT durchzuführen. In der aktuellen 2023er Leitlinie wird der OGGT nur noch als Zusatzuntersuchung empfohlen, wenn Nüchternblutzucker und HbA1c kein klares Bild zum glykämischen Status liefern.
Aus Sicht der Autorengruppe verzichtet man mit dem Nicht-Berücksichtigen des Prädiabetes als Risikofaktor auf wichtige diagnostische und prognostische Informationen. Schließlich hätten mehrere gut gemachte Studien die Gefahr, die insbesondere von einer Glukoseintoleranz ausgeht, belegt. Die Forschenden erinnern, dass ein erhöhter Nüchternblutzucker eher auf eine hepatische Dysfunktion hinweist, ein pathologischer OGTT dagegen auf eine gestörte pankreatische Insulinsekretion und eine Insulinresistenz im peripheren Gewebe.
Das Argument, der OGTT sei als Routineuntersuchung zu zeitaufwendig, lassen Prof. Rydén und sein Team nicht gelten. Denn die notwendigen zweieinhalb Stunden können das weitere Management maßgeblich beeinflussen, sei es in Form von Lebensstiländerungen oder mithilfe von Medikamenten. Konkret gehen die Forschenden unter anderem auf die SELECT-Studie mit Semaglutid ein, bei der Patientinnen und Patienten mit manifestem Diabetes ausgeschlossen waren. 66 % der Teilnehmenden wiesen allerdings einen HbA1c von mehr als 5,7 % auf, was die Relevanz des Prädiabetes in ihren Augen bestätigt. Die Elimination aus der Leitlinie sei ignorant und nehme vielen Betroffenen die Möglichkeit, noch rechtzeitig gegenzusteuern, so ihr Fazit.
Quelle: Marx N et al. Eur Heart J 2024; doi: 10.1093/eurheartj/ehae533
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