
Lieber Entspannungsverfahren statt Ginkgo empfehlen

Einen Tinnitus kann man nicht einfach abschalten, konstatierte Prof. Dr. Gerhard Hesse. Die Krux: So manche Studie suggeriert etwas anderes. Dabei werden Ergebnisse z.T. falsch interpretiert, es gibt nur kleine Fallzahlen und kaum Placebovergleiche, Resultate beruhen auf subjektiven Fragebögen. Zudem erhalten Patienten in der Regel keine Monotherapie, was die Evidenz für derartige Studien gering hält. Prof. Hesse muss es wissen, denn er war maßgeblich beteiligt an der Erstellung der interdisziplinären S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus (s. Kasten). Sie enthält Empfehlungen und Nicht-Empfehlungen für Therapien auf der Grundlage evidenzbasierter Studien.
S3-Leitlinie auch für Patienten
Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie entstand die S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, AWMF-Nr. 017-064. Sie richtet sich in erster Linie an Ärzte, es gibt aber auch eine Version für Patienten. Diese bietet leicht verständliche Informationen rund um die Erkrankung und ihre Behandlungsmöglichkeiten. Prof. Hesse empfiehlt, Kopien bereitzuhalten oder im Wartezimmer auszulegen.
Ein Tinnitus ist fast immer Symptom einer gestörten Hörwahrnehmung auf dem Boden von auditorischen Defiziten. Und jeder Hörverlust, selbst wenn ein Patient ihn nicht bewusst bemerkt, bedeutet Stress, der zu Veränderungen in der zentralen Hörbahn führt. In der Folge werden Betroffene depressiv oder misstrauischer. Ein Weghören geht bei Ohrgeräuschen praktisch nicht, ganz im Gegenteil. Die Hinwendungsreaktion verstärkt das Problem noch.
Alle Medikamente gegen Tinnitus sind wirkungslos
Die Betreuung eines Tinnituspatienten besteht im Groben aus drei Teilen: gründliche Diagnostik, ausführliche Beratung/Counselling und Interventionen gegen den Hörverlust. Darüber hinaus sollte man zur Verarbeitung der Ohrgeräusche psychotherapeutische Hilfe anbieten, betonte Prof. Hesse. Denn „es gibt kein einziges Medikament, das man gegen Tinnitus empfehlen kann.“ Rheologika, Betahistin und Steroide sind zahlreichen gut gemachten Studien zufolge bei chronischem Tinnitus komplett wirkungslos. Auch Ginkgo hat bei der Hauptdiagnose Tinnitus gegenüber Placebo keinerlei Effekt – obwohl es „tonnenweise verordnet wird“, konstatierte Prof. Hesse.
Nicht-Empfehlungen bestehen laut Leitlinie außerdem für neuromodulative Verfahren (z.B. repetitive transkranielle Magnetstimulation, bimodale oder Elektrostimulation, Musik- und Soundtherapien). Auch für Noiser und Masker gibt es keine Evidenz, obwohl sie verschreibungsfähig sind. Unterstützt werden die Nicht-Empfehlungen durch die Leitlinien anderer Länder, darunter USA, England und Japan.
Deutlich anders sieht die Situation bei Hörgeräten aus. Zwar gibt es auch dafür in Studien wenig Evidenz, doch liegt das Prof. Hesse zufolge vor allem daran, dass kaum jemand ein Placebo-Hörgerät anpassen kann und die Systeme fast nie als Monotherapie eingesetzt werden. Die klinische Erfahrung zeigt aber, dass der Ausgleich des Hörverlusts eine wesentliche Voraussetzung für die Behandlung und die Habituation des Tinnitus ist. Auch den Patienten mit einseitigem oder geringem (< 30 dB) Hörverlust und hochfrequentem Tinnitus empfiehlt man heute Hörgeräte. Denn Studien konnten belegen, dass ein Großteil von ihnen eine signifikante Verbesserung erfährt, messbar z.B. anhand der im THI**-Fragebogen angegebenen Belastung durch die Ohrgeräusche.
Cochlea-Implantate sind eine Option für hochgradig schwerhörige oder ertaubte Patienten, die sehr häufig unter einem Tinnitus leiden. Zahlreiche Studien konnten belegen, dass sich ihre Belastung nach dem Eingriff „drastisch und signifikant“ verbessert. Ganz selten kann allerdings durch die Operation ein Tinnitus auch erst entstehen, räumte Prof. Hesse ein.
Jenseits der hörverbessernden Maßnahmen stehen Entspannungsverfahren an erster Stelle. Prof. Hesse empfahl insbesondere die Progressive Muskelrelaxation. Diese sei leicht zu erlernen, auch via Internet. Physiotherapie könne sinnvoll sein, wenn Verspannungen im Bereich der Halswirbelsäule vorliegen. Der Ozontherapie erteilte er eine klare Absage.
Als weiteren, wichtigen Baustein, wenngleich nur mit moderater Evidenz, nannte er die tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Sie trägt nicht nur dazu bei, die Belastung durch die Geräusche zu reduzieren, sondern hilft auch gegen Depressivität. Für positive Effekte auf Ängste gibt es dagegen wenig Belege. Da Therapieplätze rar sind, bieten sich niederschwellige Angebote außerhalb der (Tages-)Kliniken und Praxen an, z.B. internetbasiert. In jedem Fall sollte man darauf achten, dass Online-Angebote von Therapeuten kontrolliert und begleitet werden, die individuell auf etwaige Krisen reagieren können. Schwachpunkte sieht Prof. Hesse bei der DiGA „Tinnitus-VT per App“ („Kalmeda“). Sie sei zwar verordnungsfähig, trotz mehrfacher Ankündigung aber noch nicht evaluiert. Zudem biete sie keine psychotherapeutische Begleitung. Sie könne aber ein guter Einstieg sein, denn sie mache unbestritten eine gute Beratung, so der Kollege.
Als psychische Komorbiditäten stehen bei Tinnitus Depressionen und Ängste im Vordergrund. Sind Counselling, Lebensstiländerungen und KVT ausgereizt, bleibt die Pharmakotherapie. Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Dieter Braus vom Vitos Klinikum Rheingau rät Hausärzten, sich auf wenige Medikamente zu beschränken und deren wichtigste Nebenwirkungen zu kennen. Konkret führte er an:
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI):
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Escitalopram (5–30 mg/d), eher für jüngere Patienten
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Sertralin (50–200 mg/d), eher für ältere Patienten
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI):
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Duloxetin (30–120 mg/d)
als Reserve:
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Bupropion (150–300 mg morgens)
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Agomelatin (25–50 mg z.N.)
SSRI und SNRI gehen mit einer erhöhten Blutungsneigung einher und können Hyponatriämien verursachen. Agomelatin gilt als lebertoxisch, bei Sertralin ist eine Gewichtszunahme zu erwarten. Außerdem muss man je nach Substanz(gruppe) auf kardiale Nebenwirkungen achten und ein auf lange Sicht erhöhtes Osteoporoserisiko im Auge behalten.
** Tinnitus Handicap Inventory
Quelle: Kongressbericht HNO Live (Online-Veranstaltung „Tinnitus“ vom 22.06.2023, streamed-up.com)
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