
Cartoon Kolumnen
Wenn der Körper zum Rätsel wird

Ich habe Dienst. Das Telefon klingelt. Am anderen Ende: eine Patientin in Panik. „Ich werde blind!“ Sie beschreibt flimmernde Lichtbänder, blinde Flecken, Sehstörungen. Es ist nicht das erste Mal. Sie kennt diese Symptome, hatte sie schon mehrfach. Eine klassische Migräneaura. Trotzdem trifft sie die Angst jedes Mal mit voller Wucht.
Diese Unsicherheit ist kein Einzelfall. Sie steht für einen größeren gesellschaftlichen Trend: Wir haben das Gespür für Normalität verloren. Viele Menschen vertrauen ihrem eigenen Körper nicht mehr. Natürliche Reaktionen werden als gefährliche Symptome gedeutet, jede Abweichung vom Idealwert als drohende Krankheit.
Ein Beschleuniger dieser Entwicklung war aus meiner Sicht die Coronapandemie. Noch nie zuvor wurde der eigene Körper so intensiv überwacht. Jeder Husten, jedes Halskratzen, jede Mattigkeit wurde zur potenziellen Bedrohung. Was als verständliche Vorsicht begann, mündete bei vielen in eine anhaltende Introspektion mit erhöhter Alarmbereitschaft. Früher konnte man sich auch mal zwei Tage schlecht fühlen, ohne sofort einen Hirntumor zu vermuten.
Dazu kommen die sogenannten Wearables. Sie liefern kontinuierlich Körperdaten, helfen aber nicht bei deren Einordnung. Eine Patientin misst eine erhöhte Herzfrequenz während einer Migräneattacke und sorgt sich, obwohl das bei Schmerz, Stress oder Angst ganz normal ist. Andere beobachten minimale Blutzuckerschwankungen und versuchen, diese mit diffusem Unwohlsein in Verbindung zu bringen. Die Folge: Immer mehr Menschen halten sich für krank, obwohl sie es nicht sind.
Die Medizinhistorikerin Jacalyn Duffin beschreibt, dass Krankheiten oft erst durch die Technologie sichtbar gemacht werden, die sie misst. Diese „Krankheitsproduktion“ durch Daten ist ein Phänomen unserer Zeit. Sie reiht sich ein in etwas, was in der Soziologie „Pathologization of Normality“ genannt wird – die Pathologisierung normaler körperlicher Reaktionen.
Das Prinzip ist keineswegs neu. Schon im 19. Jahrhundert führten neue Messinstrumente zur Entdeckung zuvor „unbekannter“ Krankheiten. Heute sind es Apps, die Pupillenveränderungen oder kleinste Temperaturschwankungen registrieren und Menschen mit Werten konfrontieren, die sie nicht interpretieren können. Die Folge: wachsendes Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper.
Gerade bei Erkrankungen wie Migräne wird das besonders deutlich. Ihre Symptome sind vielfältig: Aura, Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit, kognitive Beeinträchtigung. Sie verläuft phasenhaft, oft individuell unterschiedlich. Doch genau diese Variabilität wird von vielen Patienten als bedrohlich empfunden. Die gefühlte Bedrohung ist oft schlimmer als das eigentliche Symptom. Als Neurologin sehe ich daher meine Aufgabe nicht nur in der Diagnose, sondern auch in der Orientierung. Ich erkläre, dass nicht jede Aura ein Schlaganfallvorbote ist, dass Sensibilitätsstörungen zur Migräne gehören können und Lichtempfindlichkeit keine Netzhauterkrankung bedeutet.
Die größte Herausforderung ist dabei oft nicht die medizinische Aufklärung, sondern die emotionale Einordnung. Patientinnen und Patienten brauchen mehr als eine Diagnose: Sie brauchen Sicherheit und das Gefühl, ihren Körper wieder verstehen zu können. Und sie brauchen den Austausch. Zu wissen, dass andere die gleichen Symptome haben, hilft oft sehr.
Wir Ärztinnen und Ärzte müssen helfen, Normalität wieder begreifbar zu machen. Wir müssen nicht nur behandeln, sondern auch einordnen, beruhigen, entmystifizieren. Und manchmal einfach sagen: „Das ist in Ordnung. Ihr Körper funktioniert genau so, wie er soll.“ Zur Heilkunde gehört auch, Menschen zu helfen, sich selbst wieder zu vertrauen. In einer Zeit, in der der Körper immer mehr zum Rätsel wird, ist das vielleicht eine unserer wichtigsten Aufgaben.
Ihre
Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).