Sozialmedizin Achtung bei Arbeitsunfähigkeit

Praxisführung Autor: Jürgen Herbers

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Es könnte so einfach sein: Ein Patient ist aufgrund seiner Erkrankung arbeitsunfähig und erhält eine entsprechende Bescheinigung zur Vorlage für den Arbeitgeber. Doch nicht immer ist dieses Vorgehen so eindeutig. Was mache ich als Hausarzt, wenn der Patient erst drei Tage nach Ablauf der AU um eine Verlängerung bittet? Was passiert, wenn der Patient während der AU seine Arbeit verliert? Und in der eigenen Praxis: Muss meine MFA Urlaub nehmen, wenn sie wegen ihres kranken Kindes nicht zur Arbeit kommen kann? Antworten liefert dieser Teil unserer Sozialmedizin-Reihe.

Wir Ärzte stellen jeden Tag viele AU-Bescheinigungen aus und machen vieles intuitiv richtig: Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn die zuletzt vor Eintritt der Erkrankung ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung. Auch wenn aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit abträgliche Folgen erwachsen, besteht Arbeitsunfähigkeit. Es gibt aber viele Sonderfälle und Ausnahmen; die wichtigsten sollen hier aufgeführt werden.

Besonderheit: kein Arbeitsplatz vorhanden


Die AU-Bescheinigung stellt bei Patienten, die einen konkreten Arbeitsplatz haben, kein Problem dar. Schwierig wird es aber für uns, wenn es keinen konkreten Arbeitsplatz (mehr) gibt. Folgende Konstellationen sind zu berücksichtigen:


  • Arbeitslosigkeit: Bei Arbeitslosen ist nicht die zuletzt ausgeübte Tätigkeit oder der erlernte Beruf erheblich, sondern der sogenannte "allgemeine Arbeitsmarkt" zugrunde zu legen, beispielsweise eine Tätigkeit als Museumsaufseher oder in der Videoüberwachung eines Parkhauses. Nur wenn z. B. diese Tätigkeiten nicht ausgeübt werden können, besteht Arbeitsunfähigkeit. Zu klären ist noch, ob der Kranke eine Vollzeit- oder Halbtagsstelle sucht, laut AU-Richtlinie ist dies unsere Aufgabe.
  • Grundsicherung für Arbeitssuchende ("Hartz-IV"): Arbeitsunfähigkeit für Hartz-IV-Empfänger besteht nur, wenn sie nicht wenigstens 3 Stunden täglich einer leichten körperlichen Tätigkeit nachgehen können bzw. eine Eingliederungsmaßnahme nicht besuchen können.
  • Arbeitsplatz verloren WÄHREND der Arbeitsunfähigkeit: Der Patient ist NICHT arbeitslos, da er sich bei der Agentur für Arbeit aufgrund seiner Krankmeldung noch gar nicht arbeitssuchend gemeldet hat. Hier gilt auch nach Verlust des Arbeitsplatzes noch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit oder eine damit vergleichbare Tätigkeit. Bei Arztanfragen durch die Krankenkasse behauptet diese oft, der Patient sei arbeitslos und der allgemeine Arbeitsmarkt sei zugrunde zu legen; damit werden die Patienten ungerechtfertigt an die Agentur für Arbeit verwiesen, obwohl sie noch krank sind. Als Hausärzte können wir solchen Ungerechtigkeiten entgegenwirken.

Krankengeldzahlung

Wenn die AU länger als 6 Wochen andauert, endet die Lohnfortzahlung und es beginnt die Krankengeldzahlung durch die Krankenkasse. Dazu muss auf der AU-Bescheinigung "ab 7. AU-Woche" angekreuzt werden. Aufgrund aktueller Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist Folgendes zu beachten:

Die Folge-AU MUSS spätestens an dem Werktag erstellt werden, der auf den folgt, der auf der vorhergehenden AU-Bescheinigung steht (unter der Rubrik "voraussichtlich arbeitsunfähig bis…"). Es ist NICHT ausreichend, wenn die AU z. B. bis zu einem Montag attestiert wird, dass die Folge-AU dann am Mittwoch ausgefüllt wird (die "Nahtlosigkeit" wird unterbrochen). Wochenenden und Feiertage werden hierbei allerdings nicht einberechnet: Endet die AU an einem Freitag, so muss die Folge-AU erst am darauffolgenden Montag attestiert werden. Die Krankenkasse kann für einen fehlenden Tag die Mitgliedschaft kündigen, die Krankengeldzahlung einstellen und den Patienten aus der Pflichtversicherung entlassen – und dies wird tatsächlich gemacht.

Lohnfortzahlung


Lohnfortzahlung für dieselbe Erkrankung endet mit der 78. Krankheitswoche. Der Patient wird "ausgesteuert" und muss sich bei der Agentur für Arbeit melden. Er verliert dadurch aber nicht seinen Arbeitsplatz, es sei denn, ihm wäre gekündigt worden. Wird er also wieder arbeitsfähig (was bei langwierigen Krebskrankheiten durchaus geschehen kann), kann er wieder an seinen alten Arbeitsplatz zurück.Um dieselbe Krankheit handelt es sich in folgenden Fällen:


  • Die AU besteht durchgehend wegen derselben Krankheit (z. B. Brustkrebs).
  • Während der AU ist eine zweite Krankheit hinzugetreten, dabei kann mittlerweile die erste schon abgeheilt sein (Beispiel: AU wegen Brustkrebs bis zum 17. Monat, Sturz mit Oberschenkelfraktur und anschließender Lungenembolie Mitte des 16. Monats, weitere 6 Monate AU, obwohl wegen Brustkrebs ab 17. Monat Arbeitsfähigkeit bestanden hätte. Krankengeldzahlung wird nach 18 Monaten eingestellt).
  • Häufige, mehrmonatige Arbeitsunfähigkeiten wegen HWS-Syndrom und/oder LWS-Syndrom im Wechsel mit Arbeitsfähigkeit (die Wirbelsäule gilt als "ein Organ"). Wenn in 3 Jahren mehr als 18 Monate AU bestehen, wird Krankengeldzahlung eingestellt, auch wenn die neue AU nur eine Woche andauert.

Noch unverständlicher wird diese Regelung dadurch, dass diese 18 Monate innerhalb einer 3-jährigen Blockfrist bestehen müssen. Nur, wenn die Arbeitsunfähigkeit in einem Zeitblock von 3 Jahren über 18 Monate hinausgeht, besteht kein Recht mehr auf Krankengeld. Die Blockfrist einer Erkrankung beginnt mit dem AU-Tag im Leben eines Menschen, an dem er erstmals wegen dieser Erkrankung arbeitsunfähig geschrieben wurde (das kann bei Kreuzschmerzen schon 20 Jahre her sein), so steht es im §48 SGB V.

Für körperlich, geistig oder seelisch behinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen oder Blindenwerkstätten beschäftigt werden, gelten dieselben Regeln.

Stolperfallen


KEINE Arbeitsunfähigkeit besteht bei:


  • Betreuung eines erkrankten Kindes. Alternative: "Kinderkrankengeld" auf Muster 21 (max. 10 Tage pro Elternteil/Jahr)
  • Ausnahme: Privat versicherte Kinder. Die PKV leistet kein Kinderkrankengeld, Eltern müssen Urlaub nehmen.
  • Ausnahme von der Ausnahme bei MFAs: Laut Tarifvertrag müssen wir Ärzte bei entsprechender Konstellation 4 Tage Lohnfortzahlung gewähren, erst ab dem 5. Krankheitstag müsste die MFA Urlaub nehmen.
  • Behandlung oder Diagnostik, die selbst nicht zur AU führt.
  • Beispiel: Oesophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD) am Morgen, danach kann gearbeitet werden.
  • Ausnahme: ÖGD mit Midazolam oder Propofol. Die Medikation führt zu AU, daher kann diese auch attestiert werden.
  • Sterilisation
  • Ausnahme: krankheitsbedingte Sterilisation
  • Kosmetische Operation
  • Ausnahme: bei kompliziertem Verlauf. AU ist dann ab dem Tag zu attestieren, der über der normalerweise zu erwartenden Arbeitsunfähigkeit liegt.
  • Beispiel: Fettabsaugung abdominal. Bei normalem Verlauf besteht Arbeitsunfähigkeit bis zum 10. postoperativen Tag. Der Patient muss bis zu diesem Tag Urlaub nehmen. Es entwickelt sich ein erhebliches Hämatom, der Patient kann insgesamt 3 Wochen nicht arbeiten. AU auf Muster 1 ist dann vom 11. bis zum 21. Tag zu attestieren.
  • Beschäftigungsverbot
  • nach Infektionsschutzgesetz (IfSG). Beispiel: Salmonellen-Ausscheider in Einrichtung der Gemeinschaftsküche
  • nach Mutterschutzgesetz. Beispiel: Gesunde Schwangere, die Lasten über 5 kg tragen muss. Aber: AU, wenn die Schwangere z. B. wg. Schwangerschaftserbrechen eine an sich geeignete Tätigkeit nicht ausüben kann.

Der Arbeitgeber leistet in beiden Fällen Lohnfortzahlung und erhält das Geld zurück von der zuständigen Behörde (bei IfSG: z. B. Gesundheitsamt; bei Mutterschutz: Krankenkasse aus Umlage U2).

*https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1300/AU-RL_2016-10-20_iK-2016-12-24.pdf


Autor:
Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2017; 39 (5) Seite 80-81
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.