Kulturelle Vielfalt Das Gleiche muss nicht dasselbe sein

Praxisführung Autor: Sibylle May

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Die Zahl der Patienten mit Migrationshintergrund wird weiter zunehmen. Schon vor Ausbruch der Flüchtlingskrise prognostizierte das Statistische Bundesamt, dass die Zahl der über 60-jährigen Personen mit ausländischer Herkunft bis 2030 auf 28 Millionen anwachsen wird. Deren Gesundheitszustand ist oft schlechter als der Durchschnitt. Sprachliche Missverständnisse und solche im Bereich der interkulturellen Kommunikation sorgen in der Arztpraxis dabei nicht selten für Probleme und Verwirrungen.

Ein Beispiel aus dem Praxisalltag

Eine Mitarbeiterin unterstützt ihren Chef im Umgang mit einem türkischen Patienten. Ihr Chef muss den Patienten für eine Augen-OP in ein Krankenhaus einweisen. Er hat dem Patienten klargemacht: "Operieren morgen, heute gut essen und trinken, morgen nichts, morgen Spritze." Der Patient hat sich daraufhin abgewandt und nicht mehr reagiert.


Er hat gefordert, dass seine Verwandten kommen. Die Mitarbeiterin versteht die Ursache des Problems und spricht den Patienten so an: "Herr XY, Sie müssen sofort operiert werden, der Termin ist morgen früh. Sie können bis heute Nachmittag noch viel essen und trinken, morgen früh bekommen Sie dann eine Spritze. Damit bereitet das Krankenhaus Sie auf die Operation vor." Der Patient nickt zum Zeichen, dass er die Mitarbeiterin verstanden hat.

Jeder Mensch ist in gewisser Hinsicht wie alle anderen Menschen, wie einige andere Menschen und wie kein anderer Mensch. Dies gilt auch im Bereich der Medizin. Denn kulturell geprägt ist auch,

  • was wir unter Krankheit verstehen (Krankheitsverständnis),
  • wie wir unsere Beschwerden darstellen (Schmerzausdruck),
  • an wen wir uns wenden: an Ärztin/Arzt oder einen volksmedizinischen Heiler (Hodscha) und
  • welche Behandlung wir für angemessen halten. Das muss nicht immer die wissenschaftlich-schulmedizinische sein. Gerade in der Türkei sind magische Praktiken noch weit verbreitet (volksmedizinische Erklärungsmuster).

Jede Krankheitsäußerung ist somit in gewissem Sinne kulturspezifisch. "Kulturspezifische Syndrome" im engeren Sinn umfassen jedoch psychische und somatische Erlebnisformen mit kulturgebundenem Krankheitswert. In einer anderen Kultur fehlen schon die entsprechenden sprachlichen und diagnostischen Ausdrücke und konsequenterweise auch angemessene therapeutische Maßnahmen. Oft hört man vom "Mamma-mia-Syndrom", dem "Morbus Bosporus" oder dem "Türkenbauch".

Hier ein Drei-Stufen-Modell für die interkulturelle Kommunikation zwischen Arzt und Patient:

1. Herausfinden, was der Patient beziehungsweise seine Kultur

  • als Ursache für das Gesundheitsproblem erlebt,
  • für die "beste" Behandlung dieses Problems hält,
  • als geeignete Umgangsform zwischen Arzt und Patient erachtet: Wer ist der Ansprechpartner, wer entscheidet, was ist bezüglich der nonverbalen Signale zu beachten (Kommunikation)?

2. Die Unterschiede innerhalb einer Kultur berücksichtigen. Kein Mensch ist wie der andere. Schon zwischen Norddeutschen und Bayern findet sich oft ein erheblicher "Kulturunterschied". Ebenso wenig gibt es "den" Muslim oder "den" Türken.

3. Geeignete Strategien entwickeln, um die Wahrnehmung des Patienten und seiner Kultur in Erfahrung zu bringen.

Verschiedene Kulturen richtig einschätzen

Nun wäre es nahezu unmöglich, sich auf jedes einzelne Land dieser Erde einzustellen. Doch das müssen Sie auch nicht. Der amerikanische Managementtrainer Richard R. Gesteland, der seit über 30 Jahren international tätig ist, unterscheidet weltweit nur zwei hauptsächliche Verhaltensweisen: Abschlussorientiertheit und Beziehungsorientiertheit.

Was sind deren Merkmale?

Abschlussorientierte Personen

  • konzentrieren sich auf die Sache
  • nehmen zeitliche Verpflichtungen und Termine ernst
  • benötigen detaillierte Hintergrundinformationen
  • halten gewissenhaft alle Anweisungen ein
  • halten sich an Regeln der Privatsphäre, sind rücksichtsvoll
  • zeigen großen Respekt vor Privateigentum, verleihen oder leihen Dinge nur selten
  • legen Wert auf Schnelligkeit und Bereitwilligkeit
  • sind an kurzfristige Beziehungen gewöhnt.

Beziehungsorientierte Personen

  • machen viele Dinge gleichzeitig, um sich abzulenken
  • legen extrem viel Wert auf die persönliche Beziehung
  • neigen zu Unterbrechungen
  • sehen Termine als Richtwerte
  • haben schon viele Informationen, die sie über ihre Kontaktpersonen erhalten haben
  • fühlen sich Menschen verpflichtet
  • ändern Pläne oft und ohne Umstände
  • sind eher besorgt um enge Verwandte
  • haben eine Tendenz, lebenslange Beziehungen aufzubauen.

Patienten und Praxispersonal: Interessen und Erwartungs-divergenzen

Ohne auf jeden einzelnen Fall einzugehen, lassen sich einige Formen der Interaktion zwischen Patienten und Mitarbeitern als typisch herausgreifen, bei denen das Kernproblem kommunikativer Schwierigkeiten zwischen Praxismitarbeitern und Patienten sichtbar wird – denn beide Seiten haben grundsätzlich verschiedene, mitunter sogar entgegengesetzte Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen.

Ihre Patienten haben als oberstes Interesse, für ihre Lage Mitgefühl, Verständnis, tätige Hilfe und Trost von Ihnen zu erhalten. Sie erwarten aufmunternde Worte, mitfühlende Gesten, das Gefühl, umsorgt zu werden.

Die Praxismitarbeiter dagegen erwarten von Patienten in erster Linie Kooperation mit der Arbeitsweise des Personals und mit den Erfordernissen des Praxisalltags. Bei ausländischen Patienten wird das Ganze noch verstärkt, nicht zuletzt häufig durch Sprachschwierigkeiten. Ramazan Salman vom Ethno-Medizinischen Zentrum in Hannover stellt fest: "Viele Türken sind davon überzeugt, dass sie eine Krankheit nur mit Hilfe ihrer Familie bewältigen können. Die Angehörigen einfach wegzuschicken, ist für die Behandlung des Betroffenen dann nicht förderlich."

Tabuthemen

Es ist im islamischen Kulturkreis tabu, mit Außenstehenden über folgende Themen zu sprechen:

  • Familiäre Probleme und Intimes. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um einen gegengeschlechtlichen Gesprächspartner handelt. Besonders bei muslimischen Frauen sollten Sie nicht mehrfach konkret nachfragen, da diese sich schämen und von allein derartige Themen nicht ansprechen. Es kann vorkommen, dass muslimische Patienten auf die Frage nach familiären Problemen sehr abweisend reagieren, da es nicht üblich ist, darüber mit einem Nichtmuslim zu sprechen.
  • Türkische Patienten schämen sich häufig, körperliche Funktionen wie Stuhlgang, Wasserlassen, Auswurf und Erbrechen zu erwähnen.
  • Über Schwangerschaft wird mit einem Mann nicht gesprochen. Auch wenn eine schwangere Frau Blutungen hat, wird dies oft nicht erzählt, da man Angst hat, jemand könnte etwas Böses wünschen oder herbeireden.
  • Schon die Frage nach dem Familienstand wird von noch ledigen älteren Personen als unangenehm empfunden, da nicht verheiratet zu sein als Makel gilt.
  • Eine ledige muslimische Frau zu fragen, ob sie Kinder hat, gilt als ungehörig, da außerehelicher Geschlechtsverkehr verboten ist. Es kann ebenfalls als Beleidigung aufgefasst werden, wenn eine verheiratete kinderlose Frau gefragt wird, ob sie Kinder habe. Die Frau hat dann das Gefühl, man werfe ihr ihre Kinderlosigkeit vor.

Wer ist der Ansprechpartner?

Wenn eine muslimische Patientin mit ihrem Ehemann in die Arztpraxis kommt, ist in der Regel der Mann der Ansprechpartner für die Praxismitarbeiter. Probleme, die die Patientin hat, werden zunächst einmal indirekt verhandelt.

Es kann zu Konflikten kommen, wenn Sie Dinge ansprechen wollen, die gegen den Mann gerichtet sind. Sie müssten dazu die Frau alleine sprechen, da es undenkbar ist, dass sie sich im Beisein ihres Mannes negativ über diesen äußert.

So vermeiden Sie Konflikte und Missverständnisse

Das englische Wort "drug" bedeutet nicht ausschließlich Droge. Und auch das Köpfchen eines asiatischen Kindes zu streicheln, provoziert bei den Eltern böse Blicke statt eines wohlwollenden Lächelns.

Rund 60 000 Patienten pro Jahr kommen aus dem Ausland, um sich hier behandeln zu lassen. Sie stammen hauptsächlich aus den Golfstaaten (Saudi-Arabien, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate) und Russland. Ihre Behandlungen finden überwiegend in der Orthopädie, der Wirbelsäulenchirurgie, der Neurologie, der Onkologie und der Herzchirurgie statt. Zunehmend finden auch plastische, chirurgische und zahnmedizinische Leistungen oder Rehabilitation nach medizinischen Eingriffen eine Nachfrage. Auch hier birgt die Sprache das größte Potenzial für Missverständnisse.

"Gut trinken ja und gut essen, dann bald wieder gesund": Hier werden Sätze verkürzt, und manchmal kommt sogar die Überbetonung einzelner Laute oder Wörter hinzu ("hier kommt die Spriiitze"), was die Verständlichkeit nicht verbessert. Unterlassen Sie es auch, ausländische Patienten lauter anzusprechen als deutsche, denn auch die Lautstärke und Betonung der Sprache kann ein Mittel der Kommunikation sein.

In arabischen Ländern werden Melodie, Rhythmus und Schönheit des Wortklangs sehr hoch geschätzt. Bedenken Sie, dass viele ausländische Patienten aus Kulturen kommen, in denen die gute Beherrschung der Sprache auch für Menschen aus einfachen sozialen Schichten eine wichtige Fähigkeit ist. Der Grund ist, dass Informationen traditionell mündlich weitergegeben werden.

Wie machen Sie es nun richtig?

Wenn Sie ausländische Patienten auf Deutsch ansprechen, sprechen Sie in normaler Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke. Verwenden Sie kurze Sätze. Beispiel: "Ich bringe die Infusion." Sätze müssen vor allem sprachlich korrekt und vollständig sein. Wörter wegzulassen oder die Verben nur im Infinitiv zu verwenden, ist nicht angebracht.

Formulieren Sie offene Fragen. Im Gespräch mit Ihren Patienten sollten Sie die geschlossenen Fragen, auf die nur mit Ja oder Nein geantwortet wird, vermeiden. Asiatische Patienten, aber auch türkische werden Ihnen hier nämlich grundsätzlich mit Ja antworten, da sie eine Verneinung als unhöflich gegenüber der fragenden Person empfinden.

Islamische Medizinalethik – ein Überblick

  • Blutspenden und Transfusion sind erlaubt.
  • Organtransplantation ist erlaubt, Organhandel ist verboten.
  • Autopsie ist nur bei medizinischer oder forensischer Indikation gestattet; die Integrität des Leichnams ist zu respektieren.
  • Lebenserhaltende Maßnahmen im vegetativen Zustand werden nicht befürwortet.
  • Euthanasie (Sterbehilfe) ist nicht gestattet.
  • Todesfall: Erdbestattung, ohne Zeitverzug, nach ritueller Reinigung und Bekleidung des Leichnams (Angehörige, Islamische Gemeinde) und Totengebet.
  • Kremation ist nicht gestattet.
  • Vorübergehend wirkende Verhütungsmittel sind mit Einverständnis beider Eheleute gestattet.
  • Abtreibung ist grundsätzlich nicht erlaubt; Ausnahme bei medizinischer Indikation.
  • Künstliche Befruchtung ist nur zwischen den Eheleuten während des Zeitraumes ihrer intakten Ehe gestattet.
  • Die Zirkumzision des Knaben ist empfehlenswert bzw. verpflichtend.
  • Der Islam lehnt die Homosexualität ab; dies hält muslimische Ärzte jedoch nicht davon ab, AIDS-Patienten zu betreuen.
  • Gentechnik ist erlaubt, um eine Krankheit zu heilen. Jedoch ist das Eingreifen in das Erb-Gen des Menschen nicht gestattet. Des Weiteren ist das Klonen nicht erlaubt.
  • Schweineprodukte wie Insulin, Herzklappen oder auch Gelatine sind erlaubt, sofern keine Substitute zur Verfügung stehen.
  • Alkoholgehalt wird in geringen Prozenten geduldet, falls dieser im Herstellungsprozess benötigt wird. Er darf jedoch nicht sedierend wirken. Falls vorhanden, sollte eine Alternative angewendet werden.

Mit asiatischen Patienten, insbesondere aus China, gibt es ein weiteres Problem in der Kommunikation. In diesem Kulturkreis gilt es als unhöflich, ein Anliegen, eine Frage oder Bitte direkt zu äußern. Vielmehr sucht man nach Umschreibungen oder indirekten Ausdrucksweisen.

In der Hektik des Praxisalltags mag es nicht immer einfach sein, sich auf ausländische Patienten einzustellen. Mit diesem Artikel haben wir Sie ein wenig in die Welt der interkulturellen Kompetenz entführt und hoffen, dass sich die hier gegebenen Tipps als hilfreich erweisen.


Autorin:
Sibylle May
Beraterin, Trainerin, Systemischer Coach,
Mediatorin
40489 Düsseldorf
www.beratungsbuero-may.com

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (16) Seite 70-76
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.