Partizipative Entscheidung Gemeinsam zum Therapieerfolg

Praxisführung Autor: W. Enzmann

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Wenn es sich nicht gerade um einen Notfall oder eine Person ohne Artikulationsvermögen handelt, führt an der Einwilligung des Patienten in eine medizinische Behandlung kein Weg vorbei. Aber welche Rolle spielen Patienten bei der Therapieentscheidung eigentlich, und entspricht diese ihren Wünschen? Bertelsmann-Stiftung und Barmer GEK haben für den „Gesundheitsmonitor“ nachgefragt und Verbesserungspotenzial gefunden. Im Vergleich mit Spezialisten schneiden die Hausärzte dabei aber noch gut ab.

Bei Therapieentscheidungen gibt es häufig keine medizinische Evidenzlage, die für alle denkbaren Fälle eine klare Richtschnur liefert. Oft sind mehrere Behandlungsalternativen mit unterschiedlichen Auswirkungen z. B. auf die Lebensqualität möglich. Und da es der Patient ist, der die Folgen einer Therapieentscheidung trägt, erscheint es nur konsequent, dass er nicht nur über die Vor- und Nachteile von Behandlungsalternativen informiert wird, sondern im Sinne partizipativer Entscheidungsfindung (Shared Decision Making, SDM) auch mitwirken kann. Dies erscheint um so sinnvoller, als sich in Studien abzeichnet, dass zwischen Arzt und Patient gemeinsam getroffene Entscheidungen Patientenzufriedenheit, Compliance und Behandlungsergebnisse positiv beeinflussen und dass die auf diesem Wege verstärkte Patientenaktivierung Kosten sparen hilft.

Wächst der Wunsch nach Mitentscheidung?

Von 2001 bis 2012 wurden für den Gesundheitsmonitor mehrere Erhebungen mit jeweils 1 500 bis 1 800 Befragten durchgeführt. Dabei handelte es sich stets um repräsentative Stichproben der deutschen Bevölkerung im Alter von 18 bis 79 Jahren. Was man wissen wollte: Ist der Wunsch nach Mitentscheidung in der letzten Dekade bei immer mehr Patienten „angekommen“? Worauf zielen Patientenwünsche bezüglich einer partizipativen Entscheidungsfindung – eher auf Information oder eher auf Mitentscheidung? Was sind zentrale Einflussfaktoren für unterschiedliche Patientenwünsche? Ist Shared Decision Making heute für die Mehrzahl der Patienten Normalität und eine selbstverständliche Erfahrung, und wie sieht dies bei Patienten mit chronischer Erkrankung aus? Welche positiven oder negativen Erfahrungen machten Patienten mit Shared Decision Making?

Um zu klären, welche Formen der Entscheidungsfindung sich Patienten in der Hausarztpraxis wünschen, wurden mehrere Antwort-optionen vorgegeben. „Mein Hausarzt sollte mich auf dem Laufenden halten, aber im Allgemeinen sollte er entscheiden, wie er mich am besten behandelt“ stand für ein paternalistisches Modell der Entscheidungsfindung. „Mein Hausarzt sollte die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten mit mir diskutieren, und wir würden dann zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen“ beschreibt eine gemeinsame Entscheidungsfindung. „Mein Hausarzt sollte mir die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und das Für und Wider erläutern, und dann würde ich selber entscheiden, was zu tun ist“ steht für ein autonomes Konzept. „Nichts von alledem“ durfte wählen, wer sich nicht entscheiden konnte.

Im Zeitverlauf zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der Befragungsteilnehmer seit dem Jahr 2001 relativ konstant eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient wünscht. Für das paternalistische Modell (Arzt entscheidet allein) stimmt knapp ein Viertel, das autonome Konzept wählt etwa ein Fünftel. Im Zeitraum der letzten elf Jahre haben sich keine nennenswerten Veränderungen ergeben, was die relative Häufigkeit dieser Präferenzen betrifft. Überraschend ist dabei vor allem, dass die Zahl der Befürworter eines paternalistischen Modells auf demselben Niveau geblieben ist. Jeder vierte Patient hält es also nach wie vor mit dem Motto: „Das soll der Arzt entscheiden, schließlich hat er Medizin studiert und nicht ich.“

Was Patienten wünschen

Berücksichtigt man die in der Forschung seit einiger Zeit gängige Unterscheidung zweier voneinander unabhängiger Interessendimensionen von Patienten, nämlich den Wunsch nach Information und den nach Mitentscheidung über die Therapie, dann wird ein Vorrang der Informationsinteressen deutlich. Während nämlich eine große Mehrheit von Patienten heute ausführliche Erklärungen zu Krankheitsursachen wie auch zu Therapien wünscht, ist andererseits der Wunsch nach Entscheidungsteilhabe deutlich seltener zu finden. Sozioökonomische Variablen (Alter, Geschlecht, Bildungsniveau) und Morbidität (chronische Erkrankung) sind, jenseits von Persönlichkeitsmerkmalen, wesentliche Einflussfaktoren für die jeweils gewählte Präferenz zu Shared Decision Making. Präferenzen für eine alleinige Entscheidung des Arztes äußern überwiegend Ältere, Befragte mit niedriger Schulbildung und Patienten, die zuletzt sehr häufig beim Arzt waren. Dass die Zahl der Hausarztkontakte hier eine Rolle spielt, deutet nach Ansicht der Studienautoren eher auf ein vertrauensvolles Verhältnis zum Hausarzt hin und weniger auf häufige Krankheitsepisoden, denn der Gesundheitszustand spielte in diesem Kontext keine Rolle. Während jüngere Befragte mit Abitur nur zu 17 % die Entscheidung dem Arzt überlassen möchten, sind dies bei älteren Hauptschulabsolventen doppelt so viele (34 %). Frauen möchten ebenso wie chronisch Kranke die Regie über die Therapie seltener aus der Hand geben und agieren hier zumindest verbal selbstbewusster.

Wie die Daten nahelegen, ist einer sehr großen Zahl von Patienten die Entscheidungssituation im Kontext einer Krankheit gar nicht bewusst, also die Verfügbarkeit von Therapiealternativen, die sich im Hinblick auf Risiken und Nutzen unterscheiden und interindividuell in unterschiedlichem Maße geeignet sind. Sie sind also entweder davon überzeugt, dass es bei Erkrankungen überwiegend einen Königsweg der Therapie gibt oder sogar, dass die gewählte Behandlungsmethode alternativlos ist – oder sie akzeptieren stillschweigend die vom Arzt verordnete Therapie.

Patienten-Erfahrungen

So zeigt denn auch die Frage, wie oft solche Entscheidungssituationen in der Praxis vorkommen, einen überraschenden Befund: Wenn man die Antworten der Kategorie „weiß nicht“ einmal unberücksichtigt lässt, sind fast zwei Drittel der übrigen Befragungsteilnehmer der Ansicht, eine solche Situation käme eher selten oder sehr selten vor. 58 % der Befragungsteilnehmer haben nach eigener Angabe in der Arztpraxis noch nie eine solche Situation persönlich erlebt. In den letzten drei Jahren haben 70 % beim Hausarzt und 64 % beim Spezialisten eine solche Situation gar nicht erlebt, weniger als jeder Fünfte einmal. Häufigere Erfahrungen haben nur sehr wenige gemacht: Dass es zweimal oder öfter zu Entscheidungssituationen gekommen sei, berichten beim Hausarzt 6 % und beim Spezialisten 8 %. Punkten können die Hausärzte beim Verlauf solcher Gespräche: Bei ihnen machten die Patienten weniger Negativerfahrungen wie etwa unzureichende Information über Vor- und Nachteile einer Therapie oder abwehrende Reaktionen auf Fragen des Patienten.

Die Ergebnisse in Abbildung 2 zeigen, dass 28 % der Betroffenen beim Hausarzt und 38 % beim Spezialisten schon mindestens einmal eine Negativerfahrung durch unzureichende Information oder Kommunikation im Kontext von Shared Decision Making gemacht haben. Eine nicht ganz so große Gruppe (15 % beim Hausarzt, 24 % beim Spezialisten) hat solche Negativerlebnisse sogar schon mindestens zweimal gehabt. Die Befragten beklagen insbesondere eine unausgewogene Information, die nicht über Vor- und Nachteile der Therapieoptionen Auskunft gibt, dass der Arzt andere Therapien verschweigt oder eine Entscheidung schon stillschweigend getroffen hat.

Besorgniserregend erscheint, dass die Betroffenheit von einer chronischen Erkrankung fast keinen Einfluss auf die Erfahrung partizipativer Entscheidungsfindung hat – ein Hinweis, dass Ärzte auch bei chronischen Erkrankungen in vielen Fällen eine partizipative Entscheidungsfindung eher zu umgehen trachten. Deutlich werden aber auch die Einflussmöglichkeiten des Patienten in der ärztlichen Praxis: Eine nachhaltige Artikulation des Teilhabewunsches zeigt in vielen Fällen durchaus Erfolg.

Quelle:
Bernard Braun, Gerd Marstedt: Gesundheitsmonitor 2/2014, Bertelsmann-Stiftung

Autor:
Werner Enzmann

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (20) Seite 86-89
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Abb. 1: Patientenwünsche hinsichtlich Shared Decision Making 2001 bis 2012 (Angaben in Prozent) Abb. 1: Patientenwünsche hinsichtlich Shared Decision Making 2001 bis 2012 (Angaben in Prozent)
Abb. 2: Erfahrungen mit Shared Decision Making beim Haus- und Facharzt* (Angaben in Prozent) Abb. 2: Erfahrungen mit Shared Decision Making beim Haus- und Facharzt* (Angaben in Prozent)