Geriatrie Hausbesuch ist unverzichtbar

Praxisführung Autor: K. Kristoferitsch

Hausbesuche als Aufgabe des Allgemeinarztes lassen sich in verschiedene Kategorien einordnen. Eine davon ist der sogenannte „geriatrische Hausbesuch“, der im Voraus geplant ist und dazu dient, überwiegend ältere Patienten langfristig zu betreuen. Diese regelmäßigen Visiten, die etwa alle zwei bis vier Wochen stattfinden, sollen den oft chronisch kranken und pflegebedürftigen Menschen Sicherheit geben, medizinisch versorgt zu sein. Welche Vorteile und Chancen der geriatrische Hausbesuch sonst noch bietet und warum er eine unverzichtbare hausärztliche Aufgabe ist, sei im folgenden Beitrag dargestellt.

Kein Begriff in der Medizin ist so klar und selbsterklärend, als dass man ihn nicht auch noch definieren könnte. So gibt es auch für „Hausbesuch“ mehrere - im Sinn und Inhalt letztlich identische - Definitionen. Ich habe mir erlaubt, eine von Hans Tönies [1] stammende Definition zu modifizieren:


Hausbesuch ist der Besuch eines Arztes in der Wohnung oder Unterkunft eines Patienten zum Zweck diagnostischer, therapeutischer oder prophylaktischer Hilfe, wenn dieser wegen der Schwere der Erkrankung oder seines Allgemeinzustandes nicht in der Lage ist, die Praxis aufzusuchen. Hausbesuche gehören ... zu den spezifischen und unverzichtbaren allgemeinärztlichen Maßnahmen.

Tönies unterscheidet Erstbesuch, Folgebesuch, Langzeitbetreuungsbesuch, termingerechten Hausbesuch, dringliche Visite, Aufstehvisite (nachts). Aus der Sicht der täglichen Arbeit in der Allgemeinmedizin hat sich zur besseren Beurteilung der Dringlichkeit von Visiten folgende Klassifizierung in drei Arten des Hausbesuches bewährt:

  1. Notfallhausbesuch: Dringliche Visite bei akuten bedrohlichen Erkrankungen oder Verletzungen. Kein Aufschub möglich, muss daher sofort erledigt werden.
  2. Aktueller Hausbesuch: Termingerechter Hausbesuch bei aktuellen/interkurrenten Erkrankungen. Am Tag der Berufung, geplant und terminiert in Abstimmung mit dem Tagesablauf.
  3. Geriatrischer Hausbesuch: Langzeitbetreuungs- bzw. Versorgungshausbesuch. Betreuung und Versorgung multimorbider, oft immobiler meist älterer/alter chronisch kranker Menschen. Üblicherweise Tage oder Wochen im Voraus geplante/terminierte Visiten.

Der letztgenannte Langzeitbetreuungsbesuch betrifft zu weit über 90 % geriatrische Patienten im klassischen Sinn und darf daher wohl zu Recht als geriatrischer Hausbesuch bezeichnet werden.

Häufigkeit und Verteilung von Hausbesuchen

Ärzte für Allgemeinmedizin in der Steiermark leisten im Durchschnitt 700 bis 800 Hausbesuche pro Jahr. Das entspricht ungefähr vier Hausbesuchen pro ärztlichem Arbeitstag, wobei allerdings eine große Streubreite je nach Region (Land/Stadt), individueller Neigung des Arztes und auch je nach aktuellem Bedarf (Winter/Sommer, Grippezeiten, Endemien) zu beachten ist. Etwa zwei bis drei Hausbesuche pro Monat sind sogenannte Nachtvisiten (lt. Tönies also „Aufstehvisiten“), das heißt, die Berufung erfolgt zwischen 20:00 Uhr abends und 7:00 Uhr morgens.

Die sich aus der täglichen Praxis ergebende Einschätzung, dass Notfälle etwa 5 %, aktuelle Hausbesuche etwa 35 % und die Langzeitbetreuungsbesuche etwa 60 % der Visiten ausmachen, wurde im 2. Quartal 2011 (1.4. - 30.6.2011) erstmals mittels selbst entwickelter Erfassungsbögen in meiner Landarztpraxis in St. Lorenzen am Wechsel überprüft. Überraschenderweise korrelierte die Einschätzung a priori nicht mit den ermittelten Fakten. Es gab nämlich weniger Notfälle (nur 2,5 %) und mehr aktuelle Hausbesuche (48%) und damit weniger geria­trische Hausbesuche (49,5 %).

Eine mögliche Erklärung für den Rückgang der Notfallvisiten ist die Tatsache, dass die in unserem Bezirk nunmehr bestens etablierten Notarztsysteme einen Gutteil der Erstversorgung von Verletzten bei Verkehrsunfällen und von Patienten mit Myokardinfarkt oder zerebralem Insult auffangen. Außerdem fand sich bei der Revision der „aktuellen Hausbesuche“, dass mehr als 25 % davon bei geriatrischen Patienten stattfanden, die ohnedies in Langzeitbetreuung standen und aus einem mehr oder weniger aktuellen Anlass zusätzlich besucht werden mussten. Deshalb könnte man diese Subgruppe also auch unter „geriatrischer Hausbesuch“ im weiteren Sinne einordnen.

Aufgaben und Chancen beim geriatrischen Hausbesuch

Es gilt, die breit gestreuten hausärztlichen Aufgaben bei der Betreuung und Versorgung geriatrischer Patienten wahrzunehmen. Das Ziel ist dabei, die Lebensqualität zu optimieren und einen Gewinn an positiv erlebter Lebenszeit zu ermöglichen. Die regelmäßigen, festgelegten hausärztlichen Visiten in ein- bis vierwöchigen Abständen geben den Betroffenen Sicherheit und Gewissheit, was die medizinische Versorgung angeht, und tragen zur Strukturierung ihres Alltags bei. Unter anderem kann der Hausarzt dadurch rasch reagieren, falls sich der Allgemeinzustand oder das Krankheitsbild verschlechtert. So gelingt es oft, einen Abwendbar Gefährlichen Verlauf (AGV = etablierter, aber nicht weitverbreiteter Fachbegriff aus der Lehre der Allgemeinmedizin) zu verhindern.

Natürlich bedeutet das auch eine Reduktion der Krankenhauseinweisungen. Zudem hängt nicht selten die Entscheidung, ob ein geriatrischer Patient in einem Pflegeheim untergebracht wird oder doch zu Hause betreut werden kann, davon ab, ob der Hausarzt seine Liebe zur Geriatrie schon entdeckt hat oder nicht.

Teamfähigkeit gefragt

In der Kooperation mit den mobilen Pflegediensten (Hauskrankenpflege, Physiotherapie, Besuchsdienste, Palliativteam etc.) und im Kontakt mit den Angehörigen und den zunehmend häufiger anzutreffenden 24-Stunden-Betreuern liegen die großen Chancen der extramuralen geriatrischen Versorgung. Von uns geriatrisch tätigen Hausärzten verlangt das aber ein gutes Maß an Teamfähigkeit und mitunter auch Verzicht auf hierarchisch fixierte Autorität. Das ist nicht immer einfach, kann aber, nicht zuletzt wegen des emotionalen Response, der Dankbarkeit und der Wertschätzung, die den Ärzten entgegengebracht wird, sehr befriedigend sein.

Zusatzinformation „häusliches Umfeld“

Das Kennenlernen der häuslichen Sphäre (Lage, Qualität, Hygienebedingungen der Unterkunft), der familiären und sozialen Gegebenheiten bei der geriatrischen Visite bringt oft einen unerwarteten Zuwachs an wichtigen Informationen. Oft lassen sich so auch vorhandene Ressourcen aus dem unmittelbaren Umfeld der zu Betreuenden aufspüren, was weitere Möglichkeiten und Ideen zur Vermittlung von Hilfe und Hilfsmitteln eröffnen kann.

Eine freundliche, verständnisvolle und kompetente Überwachung und Anpassung der Medikation und der sonstigen empfohlenen Therapie- und Pflegemaßnahmen steigert die Therapietreue (Compliance) und erhöht die Erfolgsaussichten der gesetzten Maßnahmen.

Die persönliche Kontaktaufnahme und die regelmäßigen Gespräche mit Angehörigen und sonstigen Pflegepersonen sind äußerst wichtig und stärken die Motivation aller Beteiligten zur Bewältigung der oft komplexen Herausforderungen.

Sterbebegleitung

Die Komplexität der Aufgabenstellung spiegelt sich in einem wichtigen Sonderfall des geriatrischen Hausbesuches mit hohem Anspruch an die hausärztliche Kompetenz: die Begleitung bei Tod und Sterben. Dabei ist es wichtig, die Situation mit dem Patienten und den Angehörigen bzw. den Pflegepersonen mit der nötigen Empathie verständlich und verstehend zu besprechen. Wenn kurative Möglichkeiten ausgeschlossen sind, sollten situationsangepasst und mit der notwendigen Einfühlsamkeit die immer noch möglichen palliativen Maßnahmen eingeleitet werden - eventuell unter Kontaktaufnahme und Einbeziehung eines Palliativteams.

Konkrete Ziele sind dabei Linderung eventueller Schmerzen, Hilfe bei Atemnot, Übelkeit, Unruhe und Angst. Dabei hilft es, Hausbesuchstermine festzulegen und die Erreichbarkeit professioneller Helfer lückenlos zu gewährleisten. Auch das Prozedere, wenn das „Schlimmste“, aber letztlich doch zu Erwartende eintritt, sollte besprochen sein. Am Ende bleibt uns noch die mentale und verbale Unterstützung der Betreuenden und der Trost für die Hinterbliebenen.

Fazit

Die Zahl der alten und hochbetagten Menschen, die in ihrem häuslichen Umfeld den Lebensabend verbringen können, hat sich deutlich erhöht. Dies hängt nicht nur mit der zunehmenden Lebenserwartung zusammen, sondern auch mit der Einführung eines adäquaten Pflegegeldes und der Möglichkeit, dass 24-Stunden-Betreuung gesetzeskonform und leistbar ist. Viele dieser Menschen sind polymorbid und immobil und bedürfen daher der ärztlichen Betreuung zu Hause in Form des geriatrischen Hausbesuches. Laut Tönies gehören Hausbesuche zu den „spezifischen und unverzichtbaren allgemeinärztlichen Maßnahmen“. Da der geriatrische Hausbesuch mittlerweile der häufigste Anlass für eine allgemeinmedizinische Visite ist, ist seine Bedeutung augenscheinlich und wir sollten uns dieser Aufgabe mit Freude und Kompetenz widmen.

Literatur
1) Allgemein- und Familienmedizin, Hrsg.: Michael M. Kochen, Duale Reihe bei Hippokrates, 1998
Interessenkonflikte:
keine deklariert
Kontakt:
Dr. med. Kristian Kristoferitsch
Arzt für Allgemeinmedizin
Lehrbeauftragter der Medizinischen Universität Graz
A-8242 St. Lorenzen am Wechsel

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2011; 33 (18) Seite 36-40
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.